Die barocke Seite einer Industriemetropole
von Annemarie Bischoff
Von sanften Hügeln, den Alpen und der wasserreichen Ebene des Po umgeben ist Turin der ideale Ausgangspunkt für einen Aktiv- und Natur-Urlaub. Die Stadt selbst jedoch gilt aufgrund der starken Industrie – hier produziert unter anderem der Automobilhersteller FIAT – meist als touristisch wenig beachtenswert. Doch dies ist keineswegs der Fall; inmitten der lebendigen Metropole haben sich prachtvolle barocke Bauten erhalten, die Turin zu einer lohnenswerten Station jeder Norditalienreise machen.
Von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an bis zum Jahr 1865 war Turin die Residenzstadt der Savoyer, was entscheidende Auswirkungen auf das Stadtbild hatte. Die im 1. Jahrhundert vor Christus von den Römern gegründete Siedlung war im Jahr 1563, als die Herrscherfamilie sich dort niederließ, durch den Krieg mit den Franzosen zu großen Teilen zerstört worden. Nachdem die Stadt durch den Bau einer gewaltigen Zitadelle im Südwesten gegen weitere Angriffe vonseiten der Franzosen gesichert worden war, begann eine in Italien beispiellose, einhundert Jahre andauernde Bautätigkeit, im Zuge derer die gesamte mittelalterliche Stadt verschwand und stattdessen neue Gebäude im barocken Stil errichtet wurden.
Die Paläste der Savoyer
Das Zentrum der Savoyer Herrschaft bildete der Palazzo Reale an der Piazza Castello, dessen eher strenge äußere Form prunkvolle Gemächer und Säle verbirgt, die vor allem zu repräsentativen Zwecken genutzt wurden. In der Mitte der Piazza Castello steht ein weiteres, ganz besonderes Bauwerk der Savoyen-Dynastie: der Palazzo Madama, dessen Mauerwerk zum Teil bis zu zweitausend Jahre alt ist. Über die Piazza Castello verlief nämlich im 1. Jahrhundert die 20 Meter hohe römische Stadtmauer, deren Stadttor im 13. Jahrhundert in den Bau einer Zwingburg integriert wurde. Diese Verteidigungsanlage wiederum wurde im 17. Jahrhundert mit dem Bau der barocken Prunkfassade und der Umgestaltung einiger Innenräume den repräsentativen Bedürfnissen der Regentin Madama Reale Christina sowie ihrer Nachfolgerin Giovanna Battista angepasst. Diese hatten sich vom Palazzo Reale in den gegenüberliegenden Palazzo Madama zurückgezogen, da sie sich aufgrund der Herrschaftsansprüche, die ihre Söhne ihnen gegenüber geltend machten, nicht mehr sicher fühlten.
Wenige Straßen von einem der schönsten Plätze der Stadt, der Piazza San Carlo, entfernt befindet sich der Palazzo Carignano, erbaut von einem der bedeutendsten barocken Architekten der Stadt: von Guarino Guarini. Der Mönch, Mathematiker, Theologe und Architekt schuf fantastische Paläste und Kirchen voller Formenreichtum, mit zahlreichen Säulen und Bögen, verschiedenen Materialien und effektvoller Lichtgestaltung, sodass die einfachen Proportionen, auf denen die Gebäude ursprünglich basieren, erst bei längerer Betrachtung ersichtlich werden. Der Palazzo mit wellenförmiger Backsteinfassade und großem Festsaal diente von 1848 bis 1865 als Sitz des ersten piemontesischen Parlaments. Aktuell befindet sich in den prunkvollen Räumen ein Museum, das die Einigung Italiens thematisiert.
Von den vielen Residenzen der Savoyer empfiehlt sich vor allem ein Ausflug zum Castello del Valentino, das außerhalb der barocken Altstadt am Ufer des Po gelegen ist. Zwar können die Innenräume des Lustschlosses nicht besichtigt werden, doch im Gegenzug laden Park, botanischer Garten und kleine Cafés am Ufer des Flusses zum Spazieren und Verweilen ein.
Dagegen kann das südlich der Stadt gelegene Schloss von Stupigni auch von innen besichtigt werden. In diesem beeindruckenden „Jagdschlösschen“ mit prachtvoll gestalteten und ausgemalten Räumen befindet sich noch zum größten Teil das originale Mobiliar.
Barocke Sakralbauten
Von den barocken Kirchen sind vor allem die von Guarino Guarini hervorzuheben, insbesondere die Chiesa San Lorenzo sowie die Capella della Sacra Sindone.
Die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erbaute Capella della Sacra Sindone kann von einem Seitenschiff des Turiner Doms aus betreten werden. Dort bietet sich dem Besucher ein beeindruckendes Spiel von Formen und Licht. Die Kapelle wurde von den Savoyern in Auftrag gegeben, die dem Grabtuch Christi einen würdigen Aufbewahrungsort schaffen wollten. Diese Reliquie, deren Herkunft und Echtheit bis heute in naturwissenschaftlichen und theologischen Kreisen umstritten ist, zeigt den Abdruck eines etwa 1,80 Meter großen Mannes mit Blutspuren von zahlreichen Wunden. Kopien des Leinentuches können unter anderem in der ebenfalls sehr sehenswerten Kirche San Lorenzo sowie im Duomo San Giovanni Battista besichtigt werden.
Zu den größten Architekten seiner Zeit, der von 1714 bis 1735 in Turin lebte und arbeitete, gehörte Filippo Juvarra. Neben den zwei bereits erwähnten berühmten Profanbauten, dem Palazzo Madama und dem Schloss von Stupigni, zählt die Basilica della Natività di Maria, Superga genannt, zu seinem Hauptwerk. Die monumentale, weithin sichtbare Kirche befindet sich auf einem der Hügel östlich von Turin, von denen sich dem Besucher ein grandioser Blick über Fluss und Stadt bis zu den Alpen eröffnet.
Neben den erwähnten Schlössern und Kirchen finden sich in Turin noch viele weitere barocke Bauten sowie Sehenswürdigkeiten aus anderen Epochen, wie zum Beispiel die Mole Antonelliana, ein 167 Meter hoher, 1889 vollendeter Aussichtsturm und heutiges Wahrzeichen von Turin. Wer also nach Norditalien reist, sollte sich nicht scheuen, die Industrie- und Barockstadt Turin zu besuchen.
Unsere Literaturempfehlung:
PIEMONT & AOSTATAL – Der Reiseführer von Sabine Becht, Sven Talaron
Wie ein schützender Umhang legt sich der Westalpenbogen mit seinen imposanten Viertausendern um Italiens größte Festlandsregion. Tief eingeschnittene Täler bieten Wanderern zahllose Möglichkeiten. Die Region ist aber auch ein Lieblingsziel von Weinkennern, für die das Piemont mit seinen Spitzengewächsen mindestens so bedeutend ist wie die Toskana.
Wein oder Wandern könnte also die Frage sein, wären dazwischen nicht noch unzählige Kulturstädte – allen voran Turin, die Residenzstadt der Savoyer. Darüber hinaus führt die Reise an den Lago Maggiore, ins französisch geprägte Aostatal mit seinen grandiosen Skigebieten und zu Orten mit solch klingenden Namen wie Asti, Alba, Barolo und Barbaresco.