Von Alligatoren und guter Laune in den Sümpfen Louisianas
von Harald Kother
Temporeiche Musik, ausgelassene Tanzfreude und herzhafte Küche: In den einst entlegenen Bayous westlich von New Orleans hat sich eine ganz eigene Kultur entwickelt – und bis heute erhalten.
„Bei Zydeco geht es um Fröhlichkeit. Zydeco ist fröhliche Musik!“, ruft Chubby Carrier ins Mikrofon und greift in die Tasten seines Akkordeons, während die Bayou Swamp Band einmal mehr Fahrt aufnimmt. Waschbrett und Schlagzeug geben einen treibenden Beat vor. Selbst den Touristen aus Übersee fällt es schwer, die Füße still zu halten. Nach wenigen Songs ist der Saal am Kochen.
Zydeco ist ein schneller Musikstil, der sich in den Sümpfen Louisianas entwickelt hat, als die Kultur der französischstämmigen Acadiens mit dem Rhythm and Blues der Schwarzen verschmolz.
Die Region im Südwesten von New Orleans, in der es auch heute noch von Alligatoren wimmelt, war noch bis ins 20. Jahrhundert hinein extrem abgeschieden. Auf dem Landweg war sie praktisch nicht erreichbar. Und auch mit dem Boot war es alles andere als einfach, sich in dem Gewirr von Bayous zurechtzufinden – ein Sammelbegriff für stehende oder langsam fließende Gewässer.
Hierhin sind die Acadiens im 18. Jahrhundert geflohen, nachdem sie aus ihrer ursprünglichen Heimat im Osten Kanadas vertrieben wurden. Die französischstämmigen Siedler mussten ihre neue Heimat verlassen, weil die Franzosen im Siebenjährigen Krieg den Briten unterlagen. Damit war die französische Kolonialherrschaft östlich des Mississippi Geschichte. Für die Sumpfgebiete auf der anderen Seite des Flusses interessierte sich jedoch niemand, so dass die Flüchtlinge hier ihre Kultur pflegen konnten. Aus „Acadiens“ wurde umgangssprachlich „Cajuns“. Und zentraler Bestandteil der Kultur dieser Menschen war und ist die Cajun Music, untrennbar mit dem Akkordeon verbunden.
Schwer zu durchdringende Sümpfe
Durch das Cajun Country mit seinen undurchdringlichen Sümpfen führt heute der Interstate Highway 10. Die Route führt von Baton Rouge vorbei an Grosse Tête und Breaux Bridge bis nach Lafayette – alles Ortsnamen, die ihren französischen Ursprung nicht verbergen können. Dabei geht es über eine 29,3 km lange Autobahnbrücke, die das Atchafalaya Basin überwindet, den größten Sumpf der USA. Links und rechts ist vom fahrenden Auto meilenweit nicht viel mehr zu sehen als die Sumpfzypressen, die aus dem Morast herausragen. Knapp 20 Minuten dauert die Fahrt über den Sumpf – bis kurz vor Lafayette der Boden unter der Fahrbahn wieder fest wird.
Am nördlichen Stadtrand von Lafayette befindet sich Martin Accordions. Das Familienunternehmen fertigt die für die Cajuns so wichtigen Instrumente bis heute in Handarbeit. Gegründet wurde das Unternehmen vor 40 Jahren vom Möbelschreiner Clarence Martin, der nach wie vor täglich zehn bis zwölf Stunden in der Werkstatt verbringt und es mit seiner Hingabe an diese Arbeit sogar in ein Fotoprojekt der UN-Organisation für Arbeit geschafft hat. Auch wenn mittlerweile Tochter Pennye die Geschäfte führt, lässt er es sich auf keinen Fall nehmen, während der Präsentation der Instrumente die Rhythmus-Gitarre zu spielen.
Zwischen den Songs erklärt Pennye die Besonderheiten des Instruments. Alle Akkordeons aus dem Hause Martin sind einreihig und diatonisch, wie es die akadianische Tradition erfordert. Das macht sie kompakt, was nicht nur praktisch ist, sondern auch den besonderen Klang begünstigt. Allerdings beschränkt das den Tonumfang. Wechselt die Tonart, muss auch das Instrument getauscht werden. Für einen Virtuosen an den Tasten wie Enkelsohn Joel ist das jedoch kein Problem. Während der Ton des einen Akkordeons noch nachklingt, hat er fast schon das andere in der Hand.
Ein Flusskrebs als Markenzeichen
Auf den kompakten Instrumenten prangt das stilisierte Bild eines Flusskrebses – das Markenzeichen von Martin Accordions.
Die Krustentiere waren für die Siedler in der für Viehhaltung denkbar ungeeigneten Region einst eine lebenswichtige Grundlage für die Ernährung. Und auch heute noch ist die Krebsfischerei ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. So ist es kein Wunder, dass sich Crawfish Étouffée, also gedünstetes Krebsfleisch mit Reis, auf der Speisekarte aller regionaltypischen Restaurants findet. Auch gebratener Alligator ist weit verbreitet – kräftig gewürzt nach den Regeln der kreolischen Küche durchaus ein Genuss.
Kreolisch ist ein Sammelbegriff für die Kultur jener Einwanderer entlang der Südküste des Golfs von Mexiko, die nicht aus dem angelsächsischen Raum stammen. Neben Nachkommen französischer und spanischer Einwanderer sind damit häufig auch Menschen mit dunklerer Hautfarbe gemeint, die Sklaven aus Afrika unter ihren Vorfahren haben. Die kreolische Küche war wohl eine der ersten „Fusion“-Küchen der Welt: Geprägt von Einflüssen aus Europa, Amerika und Afrika lebt sie insbesondere von intensiv schmeckenden Kräutern und kräftigen Gewürzen – und von dem, was in den Sümpfen „kreucht“ und „fleucht“.
Wie üppig und vielfältig diese Fauna in den Bayous ist, macht eine Bootstour klar: Bryce von den Louisiana Cajun Swamp Tours steuert das kleine Boot mit dem leise surrenden Außenbordmotor immer tiefer hinein in die Sümpfe des Lake Martin im Südosten von Lafayette. In diesem Naturschutzgebiet sind die bei vielen Touristen beliebten propellerbetriebenen Airboats zwar nicht erlaubt. Allerdings hat das – abgesehen vom Naturschutzaspekt – für den Beobachter den Vorteil, dass der Lärm die hier lebenden Tiere nicht verscheucht. So dauert es auch nur wenige Minuten, bis der erste Alligator gesichtet wird. Das Reptil mit der typischen Stupsnase, das sich auf einem umgeknickten Baumstamm sonnt, scheint erst vor kurzem aus dem Wasser aufgetaucht zu sein: Anders lässt sich die „Mütze“ aus Algen und anderen Wasserpflanzen, die auf seinem Kopf prangt, nicht erklären.
Während bei dieser ersten Begegnung alle auf dem Boot zig Fotos schießen, wird kurze Zeit später klar: Hier wimmelt es nur so vor Alligatoren. Es gibt kleine, die nicht mal einen Meter lang sind und stämmige Exemplare mit mehreren Metern Länge. Bryce erklärt, dass man anhand der Größe auf das Alter schließen kann.
Sorgsam aufgeschichtetes Alligatorennest
Höhepunkt der Reptilien-Safari ist das neben einer mächtigen Sumpfzypresse befindliche Alligatorennest, sorgsam von der Mutter aus Ästen aufgeschichtet. Doch die Brutsaison ist bereits vorbei: Mutter und Kinder sind schon ausgeflogen. Dann richtet sich die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Sumpfschildkröten – und die Vogelwelt. Neben Reihern und diversen farbenfrohen Kleinvögeln beeindrucken vor allem die Fischadler, auch unter dem Namen Osprey bekannt. Die Raubvögel nisten in den Kronen der Sumpfzypressen. Es ist ein erhebendes Erlebnis, ein ausgewachsenes Exemplar mit der gewaltigen Spannweite von knapp zwei Metern so nah durch die Lüfte gleiten zu sehen.
Doch nicht nur im Naturschutzgebiet ist die Tierwelt zum Greifen nah. Im Vermillionville Village, ein Museumsdorf am Stadtrand von Lafayette, das Leben und Geschichte der Acadiens präsentiert, mahnt der Mitarbeiter an der Kasse zur Vorsicht: „Kommen Sie den Alligatoren hinten bei der Brücke über den Bayou nicht zu nahe!“ Was der Besucher zunächst für derben Südstaaten-Humor hält, entpuppt sich dann doch als Ernst. Auch in dem Gewässer, das sich um die historischen Siedlerhäuser schmiegt, ist die Unterart der Krokodile heimisch. Solange man auf den Wegen bleibt, besteht allerdings kein Risiko. Die Reptilien bevorzugen den Aufenthalt im Wasser und können sich nur auf sehr kurzen Distanzen von wenigen Metern schnell bewegen.
Wie in vielen amerikanischen Museumsdörfern schlüpfen Mitarbeiter in die Rolle der ehemaligen Bewohner. So schmettert eine entgegenkommende „Waschfrau“ ein herzhaftes „Ça va?“ (frz.: Wie geht’s?) entgegen. Wer schon öfter in Frankreich war, weiß natürlich, wie man höflicherweise auf diese Begrüßungsformel antwortet: „Ça va très bien – et vous?“ (Mir geht es gut – und Ihnen?). Doch bevor sich eine echte Konversation ergibt, kümmert sich die Frau lieber schnell um ihre Wäsche und murmelt im Vorübergehen noch ein „Merci, bien – avec le soleil!“ (Danke, gut – mit der Sonne!).
„… ich werde nicht französisch sprechen, ich werde nicht französisch sprechen, …“
Als gesprächiger erweist sich der „Lehrer“. Auf der Tafel des Klassenzimmers steht einhundertmal in Kreide geschrieben „I will not speak French“ (Ich werde nicht französisch sprechen). Was wie eine absurde, überdimensionierte Strafarbeit wirkt, erinnert an die Vehemenz, mit der während des Ersten Weltkriegs eine englischsprachig-nationalistisch gesinnte Übermacht im Süden der USA die französischen Traditionen ausrotten wollte. Tatsächlich ist dies zu einem Teil gelungen. Auch wenn sich zahlreiche Begriffe erhalten haben: Für die Bewohner Louisianas ist französisch heute kaum noch Muttersprache, sondern allenfalls Fremdsprache. Die Frage, wieso sich solch ein Hass ausgerechnet auf das Französische richtete, drängt sich förmlich auf, immerhin waren Frankreich und die USA auch damals Alliierte. Der Lehrer antwortet nüchtern: „Es ging darum, alles Fremdartige auszumerzen.“ Und die französischsprachige Tradition der Acadiens passte einfach nicht ins Selbstbild der übrigen USA.
Bloody Mary zum Frühstück
Glücklicherweise konnten sich andere Traditionen der französischstämmigen Bewohner weitaus besser halten. Neben der kreolischen Küche ist dies vor allem die Musik. Cajun und Zydeco Music sind heute lebendiger denn je. Dies wird nicht nur bei einem Besuch bei Martin Accordions klar, sondern auch beim legendären Zydeco Breakfast im benachbarten Breaux Bridge.
Bei diesem Frühstück spielt jeden Samstagmorgen ab 8:00 Uhr eine Zydeco Band. Auch Grammy-Gewinner Chubby Carrier und die Bayou Swamp Band sind regelmäßig zu Gast. Neben der treibenden Musik trägt zur ausgelassenen Stimmung zweifellos auch bei, dass viele Besucher des Frühstücks nicht nur Kaffee trinken, sondern auch die ein oder andere Bloody Mary. Eine der wichtigsten Zutaten dieses Cocktail-Klassikers – der Tabasco – wird ein paar Meilen die Straße runter in Avery Island hergestellt. Und während sich die Kinder vor allem auf die Beignets stürzen – eine Art Krapfen mit viel Puderzucker – genießen die erwachsenen Gäste die herzhaften Speisen: kräftig gewürzte Omeletts, Grits, also Maisgrütze, und Crawfish Étouffée.
Doch auf der Tanzfläche gleichen sich die Geschmäcker schnell wieder an. Alle Generationen sind vertreten – auch die Enkel tanzen mit ihren Großeltern. Die Tanzschritte – ein einfacher Two-Step – sind schnell erlernt. Wer fröhlich an die Sache heran geht, kann hier ohnehin nichts falsch machen. Schließlich, so betont es Chubby Carrier einmal mehr, geht es beim Zydeco vor allem um eines: um Fröhlichkeit.
Und das Zydeco Breakfast – wie überhaupt das gesamte Cajun Country – nicht in einer fröhlichen Stimmung zu verlassen, das ist fast schon unmöglich.