Die tschechische Variante des Art Nouveaux hat in der Architektur ganz eigene Ausdrucksformen gefunden.
von Jörg Talanow
Praha Hlavni nadrazi – Prag Hauptbahnhof. Bereits bei der Ankunft wird man freundlich mit Klängen aus Smetanas Zyklus „Mein Vaterland“ begrüßt. Kein wie sonst üblicher Gong bei Durchsagen, sondern ein weicher Harfenklang mit böhmischer Melodie informiert die Gäste über alle wichtigen Daten, die ein Reisender wissen muss oder möchte. Auch optisch ist dieser 1901-1909 erbaute Bahnhof etwas ganz Besonderes, denn er empfängt seine Besucher mit einem Jugendstil eigener tschechischer Prägung und bietet sich als Auftakt zum Kennenlernen von zwei besonderen und nahezu zeitgleichen kunstgeschichtlichen Stilrichtungen in der Stadt an der Moldau an.
Kernstück des Fanta-Gebäude, benannt nach seinem Architekten Josef Fanta, ist eine ausgeschmückte Kuppelhalle. Hier befindet sich auch das Café Fanta (Fantova kavárna), ein Kaffeehaus, vielleicht für einen ersten Kaffee in Prag, um in Ruhe Goldverzierungen, allegorischen und floralen Schmuck in Ruhe erleben zu können. In Ruhe laufen in diesem Bahnhof allerdings die wenigsten Menschen herum, obwohl er zu den prägnanten Jugendstilschätzen Prags zählt. Filmemacher brachten hier vielleicht eher etwas Ruhe mit, wenn sie die einzigartigen Räumlichkeiten als Kulisse suchten und hier fanden – z.B. beim wundervollen Film „Der Mann mit dem Fagott“, der auf dem gleichnamigen autobiografischen Bestseller von Udo Jürgens basiert.
Manche Schmuckelemente sind erst nach der Fertigstellung des Bahnhofs eingefügt worden, ergänzen aber das gesamte Jugendstilerlebnis sehr gut. Hierzu zählen die von glorifizierenden Figuren eingerahmten Felder mit der Inschrift „28 říjen 1918“ (28. Oktober 1918), dem tschechischen Nationalfeiertag, und dem Anspruch „Praga mater urbium“ – Prag, die Mutter aller Städte.
Prag um 1900 war ein kultureller Schmelztiegel mit Deutschen und Tschechen. Spannungen blieben in der Stadt an der Moldau durch ihre Zugehörigkeit zum Habsburger Vielvölkerstaat (Österreich-Ungarn) und dem zunehmenden Nationalgefühl der tschechischen Bevölkerung seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht aus. So äußerte sich dieses Nationalbewusstsein nicht nur am Ende des 1. Weltkrieges durch die Ausrufung einer eigenständigen Tschechoslowakischen Republik (1918), sondern auch durch eine beachtliche künstlerische Ausdrucksweise tschechischer Künstler. Der zunehmende Anteil der tschechischen Bevölkerung verlangte nach eigener Repräsentation im Stadtbild, die sich unweit des Jugendstilbahnhofs in Form des Repräsentationshauses zeigt.
Der Unterschied zum Jugendstil in anderen europäischen Ländern ist am Repräsentationshaus besonders auffallend. Während die Vertreter des Pariser Jugendstils durch Blüten- und Knospenmotive von der Bevölkerung weitgehend akzeptierte Formen ins Stadtbild trugen (z. B. Hector Giumard mit seinen Jugendstil-Metro-Stationen), sah es in Wien anders aus. Architekten wie Wagner, Hoffmann und Loos wählten in bewusster Abkehr vom beliebten und detailreichen Repräsentationsstil der Habsburger vollkommen klare Linien und geometrische Muster. Zeitgenossen nannten Hoffmann deshalb auch „Quadratl-Hoffmann“.
Ebenso wie ihre Wiener und Pariser Kollegen griffen Prags Jugendstilvertreter gern zu exklusiven Materialien wie Blattgold, Marmor oder edlen Metallen. In der Ausdrucksweise gingen Sie jedoch dadurch andere Wege, dass sie gerne volkstümlich-bodenständige Motive verwandten und Hausfassaden geradezu wie Bilderbücher gestalteten.
Dieser Erzählstil wurde in der Bevölkerung akzeptiert und findet sich vor allem in der Straße Na příkopě (Am Graben), in der Národni (Nationalstraße), in Nebenstraßen des Wenzelsplatzes (Václavské náměstí), am Wenzelsplatz selbst und am Repräsentationshaus,wo mit einer Mosaikarbeit in der Giebelgruppe des Eingangsbereichs die Gründung Prags durch die Königin Libussa dargestellt wird.
Das „Repre“, wie es kurz von den Pragern genannt wird, ist ein Werk der Architekten Antonin Balsánek und Oswald Polivka, die eigentlich den Stil-Mix des Historismus pflegten und mit dem Repräsentationshaus einen Übergang vom Historismus zum Jugendstil schufen. Von außen entpuppt sich der Bau in der Tat als eine Kombination beider Stilrichtungen. Während die beiden Trakte der Hauptfront in einem stumpfen Winkel zueinanderstehen und einen an den Wiener Historismusbau des Palais Ferstel erinnern, schiebt sich ein markanter Eingangsteil als Jugendstilelement zwischen die beiden Trakte.
Jugendstilfans kommen beim Betreten des Hauses voll auf ihre Kosten.
Bereits ein erster Blick in das Innere des Repräsentationshauses zeigt, dass sich die Jugendstilvertreter als Schöpfer von Gesamtkunstwerken ansahen. Nicht nur Architektur und Bilder, sondern auch die Einrichtung wurde bis ins kleinste Detail von ihnen entworfen. Das Anliegen, sich als Alleskünstler zu verstehen, war nicht nur auf Prag beschränkt, sondern findet sich in anderen europäischen Strömungen, z.B. in Belgien, Frankreich oder England. Gleichgültig, wo man sich in diesem wirklich repräsentativen Gebäude befindet – alles ist bis ins kleinste Detail liebevoll gestaltet.
Im Foyer stehen mit farbigen Glasmotiven verzierte Kartenschalter, die begehrte Tickets für Konzerte verkaufen. Der Besuch eines Konzertes mit Werken von Smetana oder Dvorak bietet gleichzeitig einen optischen Genuss in einem der größten Jugendstil-Konzertsäle Europas, der von einer farbigen Glasdecke eingefasst wird. Jugendstil-Kugellampen, vergoldete Schmuckelemente und reiche Wandmalereien garantieren einen festlichen Rahmen.
Am Bau und an der Innenausstattung des Repräsentationshauses waren viele hochrangige tschechische Künstler beteiligt. Einer von ihnen war Alfons Maria Mucha (1860-1939). Er zählte zu den großen tschechischen Jugendstilrepräsentanten, lebte jahrelang in Paris und fertigte dort etliche Jugendstilplakate, die es noch heute als „typisch französische“ Jugendstilreproduktionen gibt.
Bald entwickelte sich Mucha an der Seine zum Alles-Künstler. Er fotografierte und gestaltete Möbel, Bühnenbilder, Ladeninterieurs, Wohn-Accessoires, Kostüme sowie edlen Schmuck.
Obwohl Paris um die Jahrhundertwende als künstlerisches Zentrum in Europa galt, entschloss sich Mucha, 1910 in sein Heimatland zurückzukehren. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war vermutlich ein Auftrag der Stadt Prag zur Gestaltung eines Saals im Prager Repräsentationshaus.
Gegen Hunger und Durst hilft ein Besuch im Kaffeehaus, das mit seinen Logen im ersten Stockwerk an einen großen Theatersaal erinnert. Ganz anders ein Besuch im Untergeschoss, im Bierkeller. Hier geht es nicht nur bei Speisen und Getränken eher deftig zu, sondern auch bei der Ausschmückung des großen Saals. Kräftige Farben dominieren bei den großen Darstellungen auf gefliesten Wandbildern. Keine leichten und eleganten Motive wie im oberen Kaffeehaus, sondern Szenen aus dem täglichen Bauern- und Landleben.
Folgt man der Straße „Graben“ vom Repräsentationshaus in Richtung Nationaltheater und Wenzelsplatz, fallen verschiedene Jugendstilhäuser mit üppigen floralen Motiven an Fenstereinfassungen oder farbigen Glaseingängen auf. Sie verraten eine Vorliebe der Tschechen für französische Jugendstileinflüsse, so wie Alphons Mucha sie von Frankreich aus nach Böhmen brachte.
Zahlreiche Anregungen und Motive fand Mucha sowohl in der Natur als auch in der Volkskunst seiner mährischen Heimat. Zudem übernahm er oft auch byzantinische Einflüsse in seine Arbeiten. Entsprechend gemischt volkstümlich-erzählerisch und märchenhaft – sind die von ihm gefertigten Werke. Als Motive wählte er gern und oft elfenhafte, verträumte Frauengestalten, umhüllt von fließenden Gewändern und langem Haar. Die gesamten Szenerien sind oft eingebettet in zarte Farben und in ein Gefüge aus Linien und Ornamenten. Wer mehr über Mucha wissen möchte, dem sei ein Besuch im Mucha-Museum empfohlen, nur wenige Gehminuten vom Repräsentationshaus entfernt.
Neben dem Repräsentationshaus ist das Hotel Europa am Wenzelsplatz das monumentalste Jugendstilgebäude in der Prager Innenstadt, das sein heutiges Aussehen einem 1903 durchgeführten Umbau verdankt und damals noch „Hotel Erzherzog Stephan“ hieß. Nach 1918 schüttelte man Erinnerungen an die habsburgische Fremdherrschaft ab, taufte es um in „Grand Hotel Sroubek“, bis es dann nach der Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1948 den Namen „Grandhotel Europa“ erhielt. Der Schriftzug prangt noch heute in goldenen Lettern unter dem halbbogigen Giebelfeld. Stilisierte Blütenmotive und geschwungene Linien an den gusseisernen Balkongittern erinnern an französische Vorbilder.
Auch im Inneren des Hotels findet sich auch heute noch die alte Jugendstilornamentik in den Fluren und Salons wieder.
Nur wenige Gehminuten vom Wenzelsplatz besticht in der Straße Vodičkova die nächste Schöpfung des Jugendstilarchitekten Osvald Polívka. Es ist das „Dum U Nováku“ (Haus zu Novak), seinerzeit eines der ersten Kaufhäuser in Prag, das 1878 für den Unternehmer Jan Novák gebaut wurde, seine sehr verspielte Jugendstilhaut aber 1901-04 von Polívka erhielt. Bodenständig, konventionell und volkstümlich sind die Motive. Überhaupt nicht floral wie in Brüssel und Paris, überhaupt nicht flächig-abstrakt wie in Wien. Es kommt einem eher so vor, als wurde man einen Moment aus Smetanas „Moldau“-Komposition in bebilderter Form vor sich sehen: Bäuerliche Szenen und Tanz in einer paradiesischen Szene, die irgendwo in Böhmen spielen könnte. Eine Allegorie von Handel und Fleiß in fassadenfüllender Form, wie es in dieser Größe in Prag sonst nicht zu finden ist.
Auch bei den gewählten Materialien fuhr Polívka auf, was ihm seinerzeit an Ausdrucksmitteln und Baustoffen zur Verfügung stand. Er nutzte Mosaik für die farbige paradiesische Bildgeschichte, die der Maler und Kunstprofessor Jan Preisler schuf. Er bediente sich ausgiebigen Metallgitterarbeiten für die kleinen Balkone – für den Eingang oder nur als Ornament und optische Beigabe. Hinzu kommen gemalte Pflanzen und Vögel wie farbige Pfauen mit goldenen Krönchen. Kaum ein Meter auf der Fassade zeigt sich undekoriert.
Bleiben wir bei unserem Rundgang noch etwas bei Osvald Polívka, der allein von der Fülle der von ihm gebauten bzw. gestalteten Bauten als Vater des tschechischen Jugendstils gelten kann. Der Weg führt nur ein paar weitere Gehminuten in die Narodni trida, in der ein ehemaliges Versicherungsgebäude aus dem Jahr 1907-08 unweigerlich die Blicke auf sich zieht. Obwohl es eher streng gegliedert und ohne architektonische Spielereien erscheint, gewinnt es durch farbigen Fassadenschmuck an Leichtigkeit.
Die Fenster im obersten Stockwerk werden von plastisch geformten Buchstaben umgeben, die das Wort „Praha“ ergeben. Als farbiges Pendant fungiert im 1. Stockwerk ein breites farbiges Keramikmosaik mit allegorischen Figuren. Im 2. Stockwerk wird man daran erinnert, dass das Haus Praha ursprünglich ein Versicherungsgebäude war. Die Inschriften zeigen die Worte „Zivot“ (Leben), „Kapital“ (Kapital), „Duchod“ (Rente) und „Veno“ (Aussteuer), während ein mittleres Erkerfenster den Gebäudezweck angibt: „Pojistuje““ (Versichern), flankiert von zwei Eulen, einem beliebten Schmuckelement im Jugendstil.
Auch das Nachbarhaus des ehemaligen Topic-Verlages entstammt dem Büro des Architekten Oswald Polivka, im Vergleich zum Praha-Bau allerdings ohne allzu üppige Verzierungen. Blickfang sind hier links und rechts zwei erhöhte Außenteile, die mit runden Giebeln abschließen. In beiden ist der Verlagsname Topic mit farbigen Keramikkacheln eingelassen, der sich auch im Mittelteil des Hauses auf einem Balkongeländer werbewirksam in goldenen Lettern befindet.
Übrigens: Topic war für tschechische Künstler in den 1920er Jahren eine wichtige Adresse, denn der Verlag stellte eine Ausstellungshalle für avantgardistische Kunstausstellungen zur Verfügung. Seit 2008 wird an diese alte Tradition angeknüpft und der Topičův salon hier betrieben, heute eine der führenden Kunstgalerien für klassisch moderne sowie zeitgenössische Kunst in Prag.