Eine kurze, aber ganz spezielle Stil-Epoche
von Jörg Talanow
Prag bietet mit Jugendstil und Kubismus gute Beispiele dafür, wie parallele Architekturströmungen sich ergänzen bzw. sogar eigene Wege gehen.
Ausgesprochen markant zeigt sich etwa der Koruna-Palast Ecke Wenzelsplatz und der Einkaufsmeile Graben, 1911 bis 1914 als regelrechter Konsumtempel mit Einkaufspassage, drei Tiefgeschossen und vier oberirdischen Stockwerken gebaut. Stattliche 18.000 Quadratmeter empfingen hier die Kunden.
Charakteristisch sind eine gläserne Kuppel als zusätzliche Belichtungsquelle der Einkaufspassage und ein markanter Eckturm mit dem Abschluss in Form einer Krone. Der gesamte Baukorpus zeigt sich behäbig, wären da nicht einzelne Reliefarbeiten unter den Fensterbrüstungen oder Figuren am Eckturm. Mit ihrer symmetrischen Anordnung und der Toga-ähnlichen Bekleidung wirkt aber auch dieser Schmuck streng. Zwar ist offensichtlich, dass die Formensprache dem Jugendstil entspringt. Sie hat aber nichts mehr von der Leichtigkeit dieses Baustils.
In gewisser Weise scheint der Koruna-Palast mit seiner Strenge auf eine neue Stilrichtung zuzusteuern, die sich so nur in Prag entwickelt hat: die kubistische Architektur.
Tschechisches Alleinvertretungsmerkmal: Kubismus in der Architektur
Während sich Prags Jugendstilkünstler innerhalb der europäischen Jugendstil-Familie durch den erzählerischen Jugendstil ihren eigenen Weg des Ausdrucks schufen, entwickelten sie mit dem zeitgleich entstandenen Kubismus ein tschechisches Alleinvertretungsmerkmal. Er sollte allerdings nur eine kurze Episode bleiben, aus der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wenzelsplatz beeindruckende Beispiele finden.
Der Kubismus wurde in der Malerei von Picasso und Braque entwickelt, fand bei tschechischen Malern ebenfalls eine gute Aufnahme, wurde allerdings nach 1910 auch in der Architektur begeistert aufgenommen. Der Begriff Kubismus leitet sich vom französischen Wort „cube“ und dem lateinischen Begriff „cubus“ ab, das übersetzt „Würfel“ heißt.
Wirklich einmalig in der Welt ist, wie vor allem in Prag die Architektur den Kubismus in Form von heute noch zu besichtigenden Bauwerken umgesetzt hat, die sich harmonisch in das Stadtbild einfügen. Architekten wie Josef Chochol, Pavel Janák oder Josef Gočár waren in der „goldenen Stadt an der Moldau“ maßgeblich beteiligt, die zweidimensionalen Bildkompositionen aus der Malerei in den dreidimensionalen Raum eines Gebäudes zu übertragen.
Scharfe Kanten, Schnittflächen oder Kristallstrukturen sind dabei die prägenden Merkmale.
Der Kubismus basiert auf dem Quader als elementarer Körpergestalt. Geometrische Formen, die vom Quader abgeleitet wurden, sollten ein zu komponierendes Kunstwerk inhaltlich interessanter machen. So spielten die Kubismus-Künstler regelrecht mit Kombinationen aus Prismen, Würfeln und Pyramidenformen. Auf diese Weise konnte man die einzelnen Teile der Objekte nicht nur aus einem Winkel betrachten, sondern aus vielen Winkeln gleichzeitig. Viele Freunde schuf sich der Kubismus nicht. Den Anhängern des detailverliebten Historismus oder des farbenfreudigen Jugendstils erschien das Eckige einfach nur wie ein wildes Experiment. Den anderen war er nicht pragmatisch genug.
Die Zeit des tschechischen Architekturkubismus dauerte nur drei Jahre lang, von 1911 bis 1914. Allerdings erlebte er nach Ende des 1. Weltkriegs eine kurze Wiedergeburt als sog. Rondokubismus, dem tschechischen Nationalstil der 20er Jahre. Typisch war der Bogen als Fassadenelement, was ihm die Bezeichnung „Rondokubismus“ bzw. „Bogenstil“ einbrachte. Janák gilt zusammen mit Gocár als Begründer des Rondokubismus.
Nach Gründung eines eigenständigen Staates, der Tschechoslowakei, wollten tschechische Künstler ab 1918 mit der von ihnen entwickelten Form des Kubismus sowohl in Architektur, Malerei, Möbelindustrie und bei Accessoires einen eigenständigen Weg der Moderne mit einer eigenen nationalen Kunst gehen. Der Rondokubismus erschien dabei als eine Möglichkeit.
Er wirkt traditioneller als der eigentliche Kubismus aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Bei ihm kombinierten die Architekten Elemente des Kubismus mit Ornamenten und Farbgebungen, die aus der tschechischen Volks- und Bauernkunst bekannt waren. Er hielt sich als stilistische Verlängerung des Kubismus aber nur wenige Jahre und wurde schließlich von Bauten der Neuen Sachlichkeit ab ca. 1925 abgelöst.
Obgleich nicht sehr viele Bauten realisiert wurden, ist das Potential der kubistischen Architektur bewundernswert. Es gelang ihr auf ganz eigene Weise, Lösungen für so unterschiedliche Herausforderungen zu finden, die vom kleinen Kaffeehaus bis zum großen Bürobau reichte, der manchmal recht schwerfällig wirkt. Dabei wollten die Kubismus-Architekten Tragen und Lasten in der Architektur unsichtbar machen. Sie orientierten sich zum Beispiel an der Gotik mit ihren kunstvollen und fast mühelos erscheinenden Gewölbe- und Maßwerkformen. Aber auch der in Prag vorhandene Dientzenhofer-Barock mit seinen gekurvten Bauteilen und mit hervor- und zurückspringenden Gesimsen, Gebälk u.a. schien geistiger Pate gewesen zu sein. Als ideales Motiv zum Kaschieren tragender Teile wurde der Kristall angesehen.
Ausgeprägte Kanten, Dekor in Form von Dreiecken, Parallelogrammen u.a. wurden auch in der Möbelindustrie kennzeichnend und sind in einer breit angelegten Ausstellung in Prags „Haus zur schwarzen Madonna“ zu sehen.
Ausgesprochen vielseitig war die künstlerische Bandbreite der tschechischen Kubismus-Protagonisten. Ein Beispiel ist Josef Gočár, der seine Fähigkeiten vor allem in der Architektur umsetzte. Allerdings haben seine Möbel-, Uhr- und Lampenentwürfe den tschechischen Kubismus als eigenen Stil nach dem 1. Weltkrieg geprägt.
Gočár war der Schöpfer des ursprünglich als Kaufhaus geplanten „Haus der schwarzen Madonna“, das heute das beeindruckende Kubismus-Museum beinhaltet. Obwohl ein moderner Bau gewünscht wurde, bekam Gočár vom Prager Magistrat lediglich auferlegt, dass die Fassade des Hauses „in ihrem Maßstab und der gesamten Lösung mit Rücksicht auf das altehrwürdige Milieu“ gestaltet werden müsste. Nachdem der Magistrat die ersten Entwürfe als zu schlicht empfand und gravierende Änderungen wünschte, fügte Gočár schmückende Details hinzu. Hierzu zählen das kubistische Balkongeländer, ein kubistisches Eingangsportal oder das leicht barockisierte Mansardendach. Die Figur der schwarzen Madonna ist ein Relikt vom abgerissenen Barockhaus, das zuvor an dieser Stelle stand.
Gočár nutzte für die Baukonstruktion die neuartige Technik eines Eisenbetonskeletts. Dadurch konnte er auf viele tragende Wände verzichten und unterschiedlich große Räumlichkeiten schaffen, je nach Bedarf. Ein gutes Beispiel bietet sich im ersten Stockwerk. Es stellt letztlich nur einen einzigen großen Raum dar, der lediglich durch das Treppenhaus unterbrochen wird und in das Grand Café Orient einlädt. Es ist eine erstklassige Nachbildung des ursprünglichen kubistischen Kaffeehauses und zeigt die künstlerischen Ecken und Kanten an den Lampen, an den Erkerfenstern, am Raumschmuck. Eine kulinarische Pause sowie eine Zeitreise in die Ära kurz vor dem ersten Weltkrieg.
Das „Filetstück“ des Hauses dürfte aber die einzigartige Ausstellung sein, die sich über zwei Etagen hinzieht und in die Welt des kubistischen Designs und der Möbel führt. Ob es Sitzmöbel, Garderoben, Keramik oder edle Glaswaren sind: Hier erlebt man die besondere Epoche in einer außergewöhnlichen Fülle und Bandbreite. Abgerundet wird das Erlebnis durch Werke ausgewählter tschechischer Kubismus-Maler wie Josef Čapek, Emil Filla und Bohumil Kubista, die durchaus an französische Vorbilder erinnern.
Während das kubistische „Haus der schwarzen Madonna“ im Zusammenhang mit seiner Nachbarschaft versöhnlich erscheint, wirkt ein anderer Kubismusbau behäbig und geradezu monumental, gleichwohl aber ausgesprochen eindrucksvoll. Es ist das an der Ecke Jungmannovo náměstí (Jungmann-Platz) / Narodni stehende Palais Adria, 1922-25 gebaut für die italienische Versicherungsgesellschaft Riunione Adrietica di Sicurtà. Das „Adria“ ist nicht nur ein großes Gebäude, sondern nimmt fast die Dimension eines Straßenviertels ein, das weit in die benachbarte Jungmannova (Jungmannstraße) hineinreicht und heute die Adresse zahlreicher Firmen und Dienstleister unter einem Dach ist.
Das Projekt stammte vom Architekten Josef Zasche, während die Fassaden ein Farbkonzept vom Architekten Pavel Janák nach Art des Rondokubismus erhielten.
Auch das Adria-Projekt trägt ein Skelett aus Stahlbeton, das mit Ziegelmauern ausgefüllt ist, und umfasst 8 oberirdische sowie drei unterirdische Stockwerke. Diese insgesamt 11 Stockwerke erklären sein behäbiges Aussehen.
Die Fassade ist markant architektonisch gegliedert, obgleich sie aufgrund des dem Rondokubismus eigenen Schmuckbedürfnisses ausgesprochen überladen und gar nicht kubistisch wirkt. Die oberen Stockwerke sind als monumentale Türme mit Zinnen gestaltet, womit sie an italienische Renaissancepalais oder gar an Festungsobjekte erinnern. Im Inneren erhielt der Baukomplex eine Zentralhalle mit einer Passage. Sie besteht aus einer Halle mit einer Glasdecke und einer kreisförmigen Galerie, von denen die einzelnen Passagenflügel abzweigen. In der Halle zeigt eine astronomische Uhr mit Figuren des von Rodin beeinflussten Bildhauers Bohumil Kafka Tag und Nacht, Sonne und Mond sowie 12 Figurengruppen des Tierkreises. Insgesamt wurden beim Interieur der Passage keine Kosten gescheut. Es zeigt eine rosabraune Marmorverkleidung, edles Messing an Wänden, Leuchten und Kronleuchtern. Der Fußboden ist mit einem Marmormosaik in damals modischer Farbkombination rot-blau-weiß gestaltet.