Lost Places & Architektur-Schätze
Die ersten Veranstaltungsorte der europäischen Kunstbiennale 2024 stehen fest:
Im Herbst 2024 wird die 15. europäische Kunstbiennale Manifesta in Barcelona stattfinden. Die Organisatoren haben nun die ersten Veranstaltungsorte bekannt gegeben. Darunter sind einige Überraschungen, gerade auch in den Vororten: „lost places“, architektonische Kleinode und Kulturschätze Kataloniens.
von Harald Kother
Alle zwei Jahre ist die Manifesta in einer anderen europäischen Stadt zu Gast. Im vergangenen Jahr war es Pristina, die Hauptstadt des Kosovo, die die europäische Wanderbiennale beheimatete. Im Jahr 2020 gastierte das Kunstevent in Marseille. Nun also Barcelona, die große Metropole Kataloniens direkt am Mittelmeer!
Schon die ersten Konzeptentwürfe sorgten für eine Überraschung: Bei dieser Ausgabe der Manifesta hat man von vornherein damit geplant, die Vorstädte Barcelonas mit einzubeziehen: Gemeinden, die selbst jene, die schon öfter in der Hauptstadt Kataloniens waren, vermutlich bestenfalls nur von Straßenschildern kennen, werden Austragungsorte: Badalona, Cornellà de Llobregat, El Prat del Llobregat, Granollers, L’Hospitalet de Llobregat, Mataró, Sabadell, Sant Adrià de Besòs, Santa Coloma de Gramenet, Sant Cugat del Vallès, Terrassa.
Was das konkret bedeutet, wurde nun deutlich greifbarer: Mit der Auswahl der Ausstellungs-Locations setzt die Manifesta 15 einen starken städtebaulichen Impuls. Im Fokus stehen nicht (bzw. noch nicht) die großen und bekannten Kunst-Museen und Institutionen im Herzen der Stadt. Vielmehr präsentiert die Manifesta einerseits architektonische Kleinode jenseits der Besucherströme – bis hin zu sog. „lost places“. Andererseits erhalten katalanische Kulturdenkmäler einen internationalen Ritterschlag, die zwar den meisten Touristen nicht viel sagen werden, dafür aber für das Selbstverständnis der nach Unabhängigkeit strebenden Katalanen umso wichtiger sind.
Casa Gomis: Schmuckstück der katalanischen Moderne
Eine echte Überraschung ist insbesondere die Wiederentdeckung der Casa Gomis, auch „La Ricarda“ genannt. Die sehr elegante Villa aus dem Jahr 1963 mit ihren geschwungenen, wellenförmigen Dächern und den breiten Fensterfronten ist ein wahres Schmuckstück der Nachkriegsarchitektur. Die stilechte Einrichtung mit Designermöbeln der 50er und 60er ist fast vollständig erhalten. Das Landhaus, bei dem die Architektur für einen gleitenden Übergang zwischen „drinnen“ und „draußen“ sorgt, war als Familiensitz für Ricardo Gomis Serdañons und seine Frau Inés Bertrand Mata geplant.
Gomis stammte aus einer katalanischen Textilunternehmerfamilie, fühlte sich jedoch stark den Künsten hingezogen, war Fotograf, Kunstsammler und Kulturförderer. Zudem war Gomis Mitglied des CLUB49, gemeinsam mit John Cage, Merce Cunningham, Antoni Tàpies, Joan Miró etc., und anderer Intellektuellen-Zirkel. Er machte sein Haus während der Franco-Zeit zu einem Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde und zu einem Zufluchtsort für die zu jener Zeit unterdrückte katalanische Kultur.
Dafür passte es gut, dass das Haus ziemlich abseits errichtet wurde, gelegen an einem Strandausläufer an der Mündung des Flusses Llobregat ins Mittelmeer, hinter dem Flugplatz. Doch diese Abgeschiedenheit, zur Zeit Francos ein Segen, wurde immer mehr zum Fluch: Der Flugplatz am Llobregat wurde zum internationalen Flughafen von Barcelona ausgebaut. Die Casa Gomis liegt heute auf einem dünnen, nur umständlich zu erreichenden Streifen Niemandsland zwischen dem Llobregat, dem Mittelmeer und den stark frequentierten Start- und Landebahnen des Großflughafens.
Frühromanisches Kleinod: Kirchenfamilie von Terrassa
Aus einer ganz anderen Zeit stammt ein weiterer, jetzt schon bekannter, Ausstellungsort in Terrassa: der bischöfliche Komplex von Ègara, bestehend aus den Kirchen Sant Pere, Sant Miquel und Santa Maria. Die bereits auf das 5. Jahrhundert nach Christi zurückgehenden Bauten stehen direkt nebeneinander und dokumentieren so als Drei-Kirchen-Anlage einen für Bischofsstädte der Spätantike üblichen Bautypus.
Die wertvollen künstlerischen, architektonischen und archäologischen Elemente aus dem 6. bis 8. Jahrhundert sowie die prachtvollen mittelalterliche Malereien aus dem 9. bis 11. Jahrhundert zählen zu den herausragendsten vorromanischen und romanischen Kulturschätzen Kataloniens – und machten den Bischofskomplex schon früh zu einem Identifikationsobjekt der katalanischen Autonomie-Bestrebungen. 1931, nur wenige Jahre vor dem spanischen Bürgerkrieg, wurden sie zum „Bé Cultural d’Interès Nacional“(BCIN) erklärt, der höchsten Kategorie denkmalgeschützter Objekte Kataloniens.
Das entzückende Ensemble der drei Kirchlein ist schon seit langem vorbildlich als Museum restauriert. Am Rand des historischen Zentrums von Terrassa gelegen ist es eigentlich leicht zugänglich. Dennoch ist es kaum von Touristen besucht, denn wer verirrt sich schon nach Terrassa?
Kloster Sant Cugat del Vallès
Ebenfalls in die katalanische Denkmal-Kategorie BCIN fällt das ehemalige Benediktinerkloster Sant Cugat del Vallès. Auch dieser altehrwürdige Bau wird Ausstellungsort der Manifesta 15 sein. Die mittelalterliche Klosteranlage zählt zu den bedeutendsten Kataloniens und wurde bereits im 9. Jahrhundert gegründet. Der heutige Bau besteht aus einer Kirche aus dem 12. bis 14. und einem beeindruckenden, zweigeschossigen romanischen Kreuzgang aus dem späten 12. Jahrhundert. Das Kloster wurde 1835 aufgelöst, ging an den Staat über, stand zunächst leer, wurde aber schließlich als Museum restauriert. Von 1968 bis 1972 zog die Kunstfakultät der Universität Barcelona ein, so dass die nun vorgesehene vorübergehende Nutzung als Manifesta-Ausstellungsort für die altehrwürdigen Gemäuer nichts wirklich Neues darstellen sollte.
Tres Xemeneies – die drei Schornsteine
Dieses Industriemonument dürfte jedem Bewohner Barcelonas ein Begriff sein: Das ehemalige Wärmekraftwerk mit seinen markanten drei Schornsteinen ist gut von der Stadtautobahn „Ronda Litoral“ zu erkennen und liegt direkt hinter der nördlichen Stadtgrenze am Strand der Gemeinde Sant Adrià de Besòs. An diesem Strand geht es traditionell deutlich ungezwungener zu als direkt in Barcelona, so dass sich hier insbesondere die LGBTQ-Szene gerne trifft.
Wirken die drei Schornsteine von weitem noch wie drei elegant in Reih und Glied stehende, vertikal nach oben strebende Grazien, erkennt man bei konkreter Annäherung jedoch irgendwann die schiere Masse dieser Beton-Monster. Könnte es sich um einige in Zement eingefrorenen Kampfläufer aus den Star Wars-Filmen handeln? Fest steht jedenfalls: Eine brutalistischere Industriearchitektur wie die der Tres Ximineies kann es wohl kaum geben.
Die eigentliche Turbinenhalle, die als Manifesta-Ausstellungsfläche genutzt werden wird, scheint sich unter diesen drei in den Himmel aufragenden Beton-Riesen regelrecht wegzuducken. Seit 2011 liegt das Areal brach, obwohl die Anlage erst 1970 in Betrieb gegangen war. Gegen den geplanten Abriss formierte sich schnell Widerstand. Mittlerweile ist die Anlage als Kulturdenkmal anerkannt – und wird zur Manifesta 15 erstmals der Öffentlichkeit zugänglich sein.
Gefängnis und ehemaliges Verlagshaus
Weitere Ausstellungsorte werden das alte Gefängnis von Mataró und das ehemalige Verlagshaus Gustavo Gili im Zentrum Barcelonas sein. Das Gefängnis von Mataró wurde 1863 nach damals völlig neuartigen Prinzipen errichtet. Während der Franco-Diktatur wurden hier viele politische Gefangene festgehalten. Heute hat hier das M.A.C. seinen Platz gefunden, das Mataró Art Contemporani, also das Museum für zeitgenössische Kunst der Stadt Mataró.
Das Gebäude des Verlegers und Herausgebers Gustavo Gili wiederum – heute Editorial GG – ist ein bemerkenswertes Beispiel der katalanischen Nachkriegsmoderne. Der Verlag, in Spanien sehr bekannt für seine Kunst- und Architekturbücher, zog 2016 um. Aktuell dient das Gebäude als „Zentrale“ der Manifesta – und es wird auch während der Biennale selbst als Veranstaltungsstätte genutzt werden.
Die Manifesta 15 in Barcelona wird vom 8. September bis zum 24. November 2024 statt finden.
Eine Reise zur Manifesta können Sie übrigens hier buchen.