Dein Kulturreisejournal

Wiener Aktionismus

Provokante Kunst mit Ekelfaktor

von Julia Marhenke

Ein Lammkadaver, der mit dem Kopf nach unten und mit gespaltenen Schädel über einem Sessel hängt. Blut und Innereien, die drum herum teils auf weißen Tüchern, teils auf Bildern liegen. Dazwischen Altwaren, die zu Skulpturen aufgetürmt wurden.

Als Hermann Nitsch, Otto Muehl und Adolf Frohner sich 1962 für drei Tage einmauerten, gründeten sie damit den Wiener Aktionismus. Sie wollten provozieren, Tabus brechen und sich vom bisherigen Kunstverständnis loslösen. Wesentliche Akteure der Szene waren neben Nitsch und Muehl unter anderem Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler.

Kunst und Revolution
Am Anfang beschränkte die Gruppe – die vielmehr Freundeskreis als Künstlerzusammenschluss war – ihre Aktionen noch auf die eigenen Wohnungen und Ateliers. Ab 1965 gingen sie auch in die Öffentlichkeit, wo sie mit ihren extremen Handlungen direkte Reaktionen und Emotionen beim Publikum auslösen wollten.

Die bekannteste Aktion dürfte die Uni-Ferkelei „Kunst und Revolution“ sein. Die Wiener Aktionisten performten in einem Hörsaal und kannten keine Grenzen. Es wurden Schläge verteilt, einer von ihnen entblößte und ritzte sich, urinierte in ein Glas und trank dies anschließend aus. Es wurde sich mit Fäkalien beschmiert und auf der Nationalflagge onaniert, während ein anderer pornografische Texte vorlas. Dass bei derlei Aktivitäten Haftstrafen nicht ausblieben, versteht sich von selbst.

Startseite des Webauftritts von Hermann Nitsch © www.nitsch.org

Der Körper als künstlicheres Ausdrucksfeld
Wesentlicher Bestandteil vieler Aktionen war der menschliche Körper. Für die Gruppe galt er als künstlerisches Ausdrucksfeld. Zu Beginn waren sie meist noch selbst Akteure. Später nahmen sie passive Personen, die sie mit Farbe, Blut, Innereien und anderen Weichmaterialien überschütteten.

Auch bei den Rasierklingenaktionen stand der menschliche Körper im Mittelpunkt. Während einige wie beispielsweise Schwarzkogler die Verletzungen mit der scharfen Klinge nur andeuteten und in Szene setzten, um so die Gewalt der sozialen Zwänge sichtbar zu machen, schreckte unter anderem Brus nicht davor zurück, sich tatsächlich selbst zu verletzen, um so ihr Innerstes nach Außen zu kehren.

Sprache als Kunstform
Neben dem Körper war auch Sprache ein künstlerisches Instrument. Dies zeigte sich vor allem bei den „Provokationsprovokationen“ der Aktionslesungen. Integration des Publikums stand neben der Verstümmelung der Sprache an oberster Stelle.

So wurde nicht selten am Ende einer abgehackten Rede das Papier, auf dem diese stand, verschlungen oder die Rede selbst auf pure Laute reduziert. Zurufe konnten die Lesungen beenden oder überhaupt erst in Gang setzen. Eine Grenze zwischen Publikum und Vortragenden gab es nicht.

Günter Brus
Einer der radikalsten Vertreter des Wiener Aktionismus war dabei Günter Brus. Von Beginn an stand bei ihm der Körper im Mittelpunkt seiner Kunst wie auch seine erste Aktion „Ana“ zeigt. Später ging er zu Körperanalysen über, wie sie zum Beispiel bei der Uni-Ferkelei von 1968 zu sehen ist.
Später wandte Brus sich vom Aktionismus ab, beschränkt sich seit den 70er Jahren ganz auf zeichnerische und literarische Werke und entwickelte seine Bild-Dichtungen. Unter anderem veröffentlichte er zudem den Roman „Irrwisch“ und erhielt 1996 den Großen Österreichischen Staatspreis für Bildende Kunst für sein Lebenswerk.
2005 trat Brus eine Stelle als Kolumnist und Zeichner beim österreichischen Monatsmagazin „Datum“ an, wo er bis heute arbeitet.

Otto Muehl
Otto Muehl hingegen machte sich in erster Linie mit seinen Gerümpelskulpturen und Materialaktionen einen Namen in der Szene, sowie mit den Provokationsprovokationen. Eine seiner ersten Aktionen war die „Versumpfung einer Venus“, bei der er eine passive, nackte Teilnehmerin mit in Farbe getauchten Tüchern, verschiedenen Weichmaterialien, Flüssigkeiten und Schnüren bis zur Unkenntlichkeit verfremdete.
Nach seiner Zeit bei den Wiener Aktionisten betätigte Muehl sich als meist expressionistischer Maler. Ab 2002 entwickelte er unter anderem Electric-painting-Filme – Digitalfotos von Aktionen, die er am Computer bemalt und zu Filmen zusammenschneidet. Dadurch angeregt entstanden zudem Exzess-art-Objekte, bei denen die Farbe direkt aus der Tube auf die Leinwand gespritzt wird.

Rudolf Schwarzkogler
Rudolf Schwarzkogler, der als Fotograf zu der Gruppe stieß, inszenierte einige seiner Aktionen sogar direkt für die Kamera. Für die Wiener Aktionisten war es wichtig, ihre Handlungen auch für die Nachwelt festzuhalten, denn gerade die Performances, die Kadaver oder menschliche Teilnehmer beinhalteten, waren nur von kurzer Haltbarkeit. Oftmals deutete Schwarzkogler auf seinen Bildern Verstümmelungen und Verletzungen verschiedenster Art an. 1969 stürzte er aus einem Fenster und starb.

Schloss Prinzendorf
Schloss Prinzendorf: Austragungsort des Orgien-Mysterien-Theaters
© Photofan, CC BY-SA 3.0 AT

Hermann Nitsch und das Orgien-Mysterien-Theater
Hermann Nitsch ist der einzige der Gruppe, der auch nach der eigentlichen Schaffenszeit der Wiener Aktionisten in den 60er Jahren noch Aktionen durchführt. Alle paar Jahre führt er das „Orgien-Mysterien-Theater“ auf, bei dem er mit Kadavern, Innereien, Blut und anderen Materialien und Gegenständen arbeitet und sich von Lärmorchestern und Schreichören unterstützen lässt. Manch einer der Akteure auf der Bühne schluckt gar das Blut der frischgeschlachteten Tiere. Kreuzigungen sind an der Tagesordnung.
Das Schloss, ein Bau des 18. Jahrhunderts, ist für Nitsch der ideale Austragungsort. Überall finden die Aktionen seines Theaters statt: In den Stallungen, im Schlossgebäude, in den unterirdischen Gängen, im Hof oder auch im Obstgarten.

Aktion anlässlich der Gründung der Nitsch Foundation
128. Aktion, 22.10.2009 anlässlich der Gründung der Nitsch Foundation
© Nitsch Foundation, CC BY-SA 3.0


2009 gründete sich zudem die Nitsch Foundation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Gesamtkunstwerk Nitschs zu unterstützen und zu entwickeln. Dafür zeigt sie regelmäßig Ausstellungen, Installationen und Aktionen, die von Nitsch selbst konzipiert wurden und die unter anderem das Orgien-Mysterien-Theater aufschlüsseln und verdeutlichen sollen.
Nitsch erhielt 2005 ebenfalls den Großen Österreichischen Staatspreis für Bildende Kunst.

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