Dein Kulturreisejournal

Kunstszene Berlin 2009

Atelierbesuche und Künstlergespräche im Rückblick

von Harald Kother

Vom 24. bis 27. September 2009 führte drp Kulturtours erstmalig und sehr erfolgreich die Reise „Kunstszene Berlin“ durch. Dabei besuchten die Teilnehmer in Begleitung der Berliner Künstlerin Birte Forck zeitgenössische Künstler in ihren Ateliers, ließen sich Werke an ihrem Entstehungsort erklären und diskutierten über aktuelle Strömungen und Entwicklungen auf dem Kunstmarkt.

Das Programm verlief parallel zum Art Forum Berlin und weiteren Kunstmessen. In der freien Zeit bot sich so Gelegenheit, in das Messegeschehen einzutauchen.

Auf der "Preview" im Flughafen Tempelhof
Auf der „Preview“ im Flughafen Tempelhof © Matthias Pätzold

Nach dem Kennenlernen am ersten Tag beim Abendessen in der Brasserie am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte fuhr die Gruppe gemeinsam zur Vernissage der „Preview Berlin“. Die Ausstellungsflächen dieser Kunstmesse befinden sich im Terminalgebäude des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Ganz unabhängig von den größtenteils sehr experimentellen und raumgreifenden Installationen bot sich somit ein nicht alltägliches Kulturprogramm. Denn außerhalb von Veranstaltungen ist das geschichtsträchtige Gebäude nur im Rahmen von besonderen Führungen zugänglich.

Gisela Beck: Universen in monochromen Flächen
Am nächsten Morgen begann das eigentliche Reiseprogramm. Die Gruppe besuchte dazu die Malerin Gisela Beck, die ihr Atelier in ihrer Treptower Wohnung im Hinterhaus fast direkt unterm Dach untergebracht hat. Beck arbeitet unter anderem an monochromen Bildern mit feinsten Farbnuancen, deren Tiefe und Vielfalt bei einer oberflächlichen Betrachtung verborgen bleibt. Beck schärft mit ihren nur auf den ersten Blick einfarbigen Bildern die Wahrnehmung und fordert das Auge zu einer Meditation über die jeweilige Farbe regelrecht heraus. Erst nach gewisser Zeit erkennt der Betrachter, dass unter einer vermeintlich einheitlichen Farbschicht unterschiedlichste Pigmente hindurchschimmern und sich so eigene, monochrome Farb-Universen auftun.

Gisela Beck in ihrem Atelier
Gisela Beck in ihrem Atelier © Matthias Pätzold

Aus dieser ungewöhnlichen Begegnung mit den Phänomenen Fläche, Farbe und Licht entwickelte sich ein philosophisches Gespräch über das Wesen der Malerei – und über die Schwierigkeit, solch in sich geschlossene Farb-Universen technisch zu reproduzieren und so für Werbeflyer und Kataloge zu erschließen. Schließlich verlangt der Kunstmarkt nicht nur nach neuen Ideen und interessanten Persönlichkeiten, sondern auch nach Vervielfältigungen.

Ute Langkafel: wie Fotokunst im öffentlichen Raum das kollektive Unbewusste aufdeckt
Im Anschluss wechselte die Gruppe in den Stadtteil Kreuzberg. Dort, in der Dresdener Straße, betreibt die Fotokünstlerin Ute Langkafel die Galerie MAI.FOTO. Zu sehen war dort ihre Ausstellung „Berlin TRANSIT Istanbul und zurück“. Im Rahmen dieses Projektes fuhr Langkafel die vor allem in den 70er- und 80er-Jahren bei Türken beliebte und berüchtigte Transitstrecke ab und dokumentierte ihre Reise fotografisch.

Der alte Kreuzberger Kiez SO36 mit dem hohen Anteil türkischstämmiger Migranten war für diese Ausstellung selbstredend der ideale Ausstellungsort. Schließlich haben sich die Autofahrten, bei denen ganze Familien häufig schwer beladen die mehr als 2000 Kilometer lange und zum Teil gefährliche Strecke nonstop in drei Tagen und drei Nächten zurückgelegt haben, ins kollektive Unbewusste der Migranten eingeprägt.

Fotokunst im öffentlichen Raum
Fotokunst im öffentlichen Raum © Matthias Pätzold

Deswegen erweiterte die Fotokünstlerin die Präsentation in den öffentlichen Raum hinaus: Die Fotos hängen großformatig an den Häuserwänden der Dresdener Straße. Langkafel berichtete, wie dadurch Nachbarn, die sonst kaum an Kunst interessiert waren, in die Galerie hineinfanden. Viele, so die Fotokünstlerin, hätten sich durch die Bilder in die Vergangenheit zurückversetzt gefühlt und sich an die Autofahrten erinnert.
www.maifoto.de

Nur eine Häuserecke weiter besuchte die Gruppe die Produzentengalerie Scotty Enterprises, in der die Ausstellung „Ich habe es vergessen“ von Katrin von Lehmann und Daniel Ben-Hur zu sehen war. Lehmann erklärte die Entstehungsweise der ausgestellten Werke, darunter zwei „black outs“: Bei diesen Arbeiten malt die Künstlerin blind und faltet das Ergebnis wie eine Ziehharmonika zusammen. Sichtbar bleibt somit nur ein Bruchteil der Malerei. Der größte Teil der bemalten Flächen wird verborgen. Lehmann gibt sie dem Vergessen preis.
www.vonlehmann.com

Katrin von Lehmann
Katrin von Lehmann, „Ich habe es vergessen“ © Matthias Pätzold

Scotty Enterprises: über die Funktionsweise einer Produzentengalerie
Zusätzlich entwickelte sich ein Gespräch über die Funktions- und Arbeitsweise einer Produzentengalerie. Die Künstlerin erklärte, dass sie und 17 weitere Kollegen sich bei Scotty Enterprises engagieren. Die Ausstellungen dort sind für jeweils zwei Wochen zu sehen, anschließend ist der nächste Künstler an der Reihe. Die Künstler tragen gemeinsam die Grundkosten für den Raum. Für Einrichtung und Bewerbung einer einzelnen Ausstellung ist jedoch jeder selbst verantwortlich.
www.scotty-enterprises.de

Der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Die Teilnehmer nutzten die Zeit – und die inkludierten Tickets – für die Kunstmesse „art forum berlin“ in den Messehallen.

Jan Klopfleisch: Inspiration für die Abstraktion
Am nächsten Morgen traf sich die Gruppe im Wedding, um dort Jan Klopfleisch in seinem Atelier zu besuchen. Klopfleisch präsentierte einige Arbeiten aus seiner Serie „issigak – in“. Issigak ist das Innuit-Wort für Schneebrille – eine Konstruktion, die Schatten auf die Augen wirft, aber den Durchblick nach vorne erlaubt. De facto handelt es sich um eine Vorform der Sonnenbrille. Issigak erzeugt mit Hilfe zweier parallel verlaufender Hölzer einen streifenförmigen Schattenschutz für das Auge. Klopfleisch ließ sich davon inspirieren und trug im Wechsel die Farben Zinkweiß und Beinschwarz in einem festgelegten Streifenformat auf zwei zusammengehörige Platten auf, die das Augenpaar symbolisieren. Durch den Auftrag mehrerer Farbstreifen entsteht ein vielschichtiges Bild. Der Betrachter sieht mehrere waagerechte Streifen in verschiedenen Grauabstufungen, erkennt jedoch erst auf den zweiten Blick, dass der Maler nur mit zwei verschiedenen Farben gearbeitet hat.
www.janklopfleisch.de

Atelier von Line Wasner
Besuch im Atelier von Line Wasner © Matthias Pätzold

Line Wasner: Spurensuche mit Humor
In der Nähe von Klopfleischs Atelier liegen die Uferhallen – ein Kulturzentrum in privater Trägerschaft. Es handelt sich um die ehemalige Hauptwerkstatt der Berliner Verkehrsbetriebe BVG. In den Hallen haben zahlreiche Künstler Atelierflächen gefunden – darunter auch Line Wasner. Wasner betreibt mit ihrer Malerei Spurensuche: Sie malt auf dem Weg gefundene Gegenstände naturalistisch nach – von Geldstücken über die Zigarettenkippe bis hin zum Prospekt eines China-Restaurants. In den Bildern schafft sie so ein humoristisches Abbild der Wirklichkeit.
www.linewasner.de

H. N. Semjon: KioskShop berlin
Anschließend wechselte die Gruppe in den Bezirk Mitte, wo der Künstler H. N. Semjon seinen KioskShop berlin betreibt. Mit diesem „Ladengeschäft“ konfrontiert der Künstler den Einzelhandel und die Kunstwelt auf einzigartige Weise. Der Shop ist vom Prinzip her so eingerichtet wie ein gewöhnlicher Kiosk. Es gibt Verkaufsregale, Kühlschränke, einen Tresen eine Kasse und „Waren“, wie man sie in einem Kiosk erwartet: Brandt Zwieback, Ariel-Waschmittel, Coca-Cola-Dosen, Zeitungen und Zeitschriften, Süßigkeiten, Zigaretten und vieles mehr. Allerdings unterscheiden sich diese „Waren“ von den echten Produkten in einem wesentlichen Punkt: Die handelsüblichen Produktpackungen sind in gebleichtes Bienenwachs eingelassen und so für die Ewigkeit konserviert. Der Künstler nennt sie Product Sculptures. Ein Teil der Regale steht noch leer: Semjon vervollständigt das Sortiment erst nach und nach – und wird nach eigenen Angaben dafür wohl noch mehrere Jahre benötigen.

H. N. Semjon im Kioskshop Berlin
H. N. Semjon (links) hinter dem Tresen seines Kioskshops Berlin © Matthias Pätzold

Bei einer (echten) Flasche Sekt entwickelte sich ein vielschichtiges Gespräch über die Warenwelt, die Vergänglichkeit und den Kunstmarkt. Semjon erläuterte dabei, dass er den KioskShop berlin von vornherein so konzipiert hat, dass der Laden und die Product Sculptures ihn überdauern sollen.
www.kioskshopberlin.de
www.semjonsemjon.com

Die Gruppe speiste anschließend ein paar Straßen weiter in Clärchens Ballhaus, einem traditionsreichen Tanzsaal Berlins, und ging nach dem Dinner auf Vernissagen-Hopping: Bei Eröffnungen in Mitte und Kreuzberg trafen die Teilnehmer auf einige Künstler, die sie in den vergangenen Tagen kennen gelernt hatten.

Unsere Literaturempfehlung:
BERLIN – Der Reiseführer von Michael Bussmann, Gabriele Tröger
Hauptstadt, Kreativlabor, Partymetropole. Glamour trifft hier auf Hartz IV, Biedermann auf Knallkopf, Deutschland auf den Rest der Welt.
Langweilig wird es hier keinem. Egal ob man nun auf den Spuren der Preußenkönige unterwegs ist oder der alten Mauertristesse nachspürt, in der Lebensmitteletage des KaDeWe die Zeit vergisst oder sich in den Szenevierteln zur kreativen Multikulti-Boheme gesellt – Berlin bietet viel.
Eigentlich zu viel für 300 Buchseiten. Für den Anfang jedoch können wir weiterhelfen: mit vielen Tipps, Adressen und Spaziergängen kreuz und quer durch die bunte Welt Berlins.