Dein Kulturreisejournal

Die Ruinen von Glendalough

Spiritueller Rückzugsort mit Busparkplatz

von Harald Kother

Einst schliffen Eis, Gletscher und Witterung die Gipfel der Wicklow Mountains zu sanften Kuppen. Heute bedeckt eine dünne Grasnarbe die Granitfelsen. Nicht einmal tausend Meter hoch begegnen die Berge dem Wanderer wirsch und unwirtlich. Allzu oft peitschen Wind und Wetter über die Hügel hinweg. Dann hüllen die niedrig treibenden Wolken die ganze Szenerie in einen dichten Nebel.

Unten, in den Tälern, wechseln sich saftige Koppeln mit stillen Tannenwäldern und sumpfigen Birkenhainen ab. Immer wieder steigen _ Felsen fast senkrecht in die Höhe, von Moosen und Farnen bedeckt. An der Stichstraße ins Tal von Glenmalur warnen Schilder vor spielenden Kindern. Dabei kommt hier höchstens alle fünf Minuten ein Auto vorbei. Keine Menschenseele ist weit und breit zu entdecken, auch nicht bei dem einsamen Hof, der auf der anderen Seite des gluckernden Gebirgsbaches liegt.

Ruinen von Glendalough
Von dieser Kapelle stehen nur noch die Außenmauern © Harald Kother

Ganz anders das Nachbartal. Hier stehen die Klosterruinen von Glendalough. Seit dem frühen Morgen rollen PKWs, Motorräder und immer wieder Reisebusse die engen Landstraßen hinauf, bis der große Parkplatz komplett gefüllt ist. Von einer Imbissbude weht der Geruch von Fish’n’Chips herüber. Schülergruppen rennen kichernd mit Coladosen in der Hand über das Gelände. Die Chance für ein stimmungsvolles Foto von den Ruinen ohne Touristen mit Baseball-Mützen und knalligen Regenjacken sinkt gegen Null. Aber ich beklage mich nicht, schließlich war ich gewarnt. Im Lonely Planet, der Bibel aller Rucksacktouristen, heißt es, man solle möglichst frühmorgens oder spätabends kommen, um den Busreisegruppen und Schülerpartys auszuweichen.

Die Klosterruine, nur eine gute Autostunde von Dublin entfernt, gehört zu den herausragendsten Reisezielen Irlands. Dort, im „Gleann Dá Locha“, irisch für „das Tal der zwei Seen“, gründete der heilige Kevin bereits im sechsten Jahrhundert nach Christi Geburt das erste Kloster. Begonnen hatte damals alles mit einer Einsiedelei. Die lag am oberen See, unter einem Felsvorsprung, und war nur per Boot erreichbar. Einer Legende zu Folge soll sich Kevin dorthin zurückgezogen haben, um vor einer hoffnungslos in ihn verliebten Frau zu fliehen.

Ruinen von Glendalough
Rundtürme und meterhohe Zypressen © Harald kothe

Ob die Frau den Heiligen dort aufspürte, ist nicht überliefert. Sicher ist allerdings, dass diese spirituelle Einsiedelei Anhänger Kevins und in den folgenden Jahrhunderten Pilger aus ganz Europa anzog. Irland war in der damaligen Welt bekannt als die „Insel der Heiligen und Gelehrten“. Das Land war schon christianisiert, als die Menschen in Mitteleuropa noch zu Wotan und anderen germanischen Göttern beteten. Von der grünen Insel aus zogen sogar Missionare durch das heutige Deutschland und Frankreich, bekehrten die Heiden und gründeten Klöster, unter anderem in Straßburg, Würzburg und Regensburg. Während dieser Zeit wuchs Glendalough zu einer Klosterstadt für mehrere tausend Schüler und Lehrer heran.

Die mittelalterlichen Ruinen gehören heute zum Pflichtprogramm der meisten Irland-Touristen. Ein Großteil der Reisenden kommt allerdings nur für einen Tagesausflug aus der knapp 60 Kilometer entfernten Hauptstadt Dublin. Um dieser Meute auszuweichen beziehe ich Quartier in Roundwood, nur wenige Kilometer von der Klosterruine entfernt. Roundwood, auch ein Kuriosum, ist mit gerade mal 238 Metern über Normal Null die höchstgelegene Ortschaft Irlands. Ich schnüre die Wanderstiefel und nehme den Wicklow Way, einen Wanderweg, der von Dublin kommend an den Ruinen von Glendalough vorbeiführt. In Laragh, dem letzten Dorf vor der Klosterstadt, stoße ich wieder auf die Hauptstraße. Hier kommt mir ein Reisebus nach dem anderen entgegen. Als ich am späten Nachmittag den großen Parkplatz erreiche, stelle ich erfreut fest, dass die meisten Besucher schon wieder abgereist sind.

Ruinen von Glendalough
Die Ruinen sind umgeben von satten grünen Wiesen © Harald kother

Auch das Wetter zeigt sich jetzt freundlicher. Die Wolkendecke hat sich geöffnet. Die Nachmittagssonne überzieht das ganze Tal mit einem warmen Glanz. Die verwitterten Grabsteine, die neben den Ruinen stehen, die Wachholdersträucher, die Kiefern und das eigentümliche Licht zaubern eine Atmosphäre der Ruhe, der Besinnlichkeit. Nicht der leiseste Windhauch stört die Stimmung im Tal. Die wenigen Touristen, die in den benachbarten Dörfern, im Glendalough Hotel oder der Jugendherberge eine Bleibe für die Nacht gefunden haben, verteilen sich auf dem ausgedehnten Gelände.

Ich stoße immer wieder auf Ruinen: einsam im Wald liegende Überreste einer romanischen Kirche, am Hang die steinige Kammer des Klostergründers Kevin. Und in der Mitte des engen Tales, am Ufer des unteren Sees gelegen, stehen die Ruinen mit dem markanten Rundturm und den Überresten der Kathedrale. Dort schlug vom 10. Jahrhundert an das Herz des mittelalterlichen Klosters – bis 1398. Dann kamen englische Truppen und zerstörten bei ihrem Kreuzzug gegen alles Irische die Anlage fast vollständig. Zwar bemühten sich einige Gläubige in der Folgezeit, die Abtei wieder zum Leben zu erwecken. Doch im Zuge einer erneuten Unterdrückungskampagne der Engländer wurde das Kloster im 17. Jahrhundert endgültig aufgegeben.

Wer die Ruinen besichtigen möchte, sollte mehrere Stunden einkalkulieren. Denn viele Sehenswürdigkeiten liegen etwas versteckt und erschließen sich nicht auf Anhieb. Außerdem sind die frühchristlichen Ruinen am oberen See und die Überreste der mittelalterlichen Klosterstadt am unteren See knapp zwei Kilometer voneinander entfernt.

Etwas weiter unten im Tal, etwa eine Viertelstunde vom ehemaligen Zentrum entfernt, liegt St Saviour’s Church. Auf dem Weg dorthin begegnet mir ein junger Mann in einer Mönchskutte. Ich frage mich, ob der Geistliche zu einer der Klausen gehört, die im Reiseführer als Unterkünfte für Pilger beschrieben sind: kleine Hütten für Alleinreisende, ohne Strom und nur mit Warmwasserboiler ausgestattet.

Ein Schild weist den Weg zu der ehemaligen Kirche. Von dem Waldweg geht es links ab, mitten durch einen dichten Tannenforst. Der Pfad verliert sich auf dem dunklen Boden. Nur ein paar Fußspuren den Hang hinunter lassen erahnen, dass die Richtung stimmt. Unvermutet öffnet sich der Forst zu einer kleinen Lichtung. Hier liegen, vor der Außenwelt versteckt, die Ruinen von St Saviour’s Church.

Der Rundbogen eines Portal sowie mehrere Fensteröffnungen sind noch erhalten. Auf einer Seite wurden die Steine allerdings so weit abgetragen, dass man bequem über die ehemalige Außenwand klettern kann. Ein paar Meter weiter fließt der Bach vorbei, der aus dem unteren See fließt. Das Gluckern und Rauschen sowie der dichte Tannenwald schlucken alle Geräusche, selbst die Laute, die von der Straße am gegenüberliegenden Hang herrühren. Ein Gefühl der inneren Ruhe stellt sich ein. Ich setze mich auf eine Mauer und lasse meine Gedanken fliegen. Wie mag hier das Leben vor und 1000 Jahren gewesen sein? Das Tal liegt schon tief im Schatten der Berge, als ich wieder in die Gegenwart zurückkehre. Zügig mache ich mich auf den Rückweg und verabschiede mich von diesem Ort der Geborgenheit.

Unsere Literaturempfehlung:
IRLAND – Der Reiseführer von Ralph Raymond Braun
Ist die »Grüne Insel« wirklich ein Patchwork unverdorbener Landschaften? Hat jedes Dorf einen Pub? Was macht Dublin zur heimlichen Hauptstadt der englischsprachigen Literatur? Wie unverfroren muss man sein, um in den Fluten des Atlantik baden zu können? Und was bedeutet der Brexit für die Insel?
Diesen und anderen Fragen ist Ralph-Raymond Braun in seinem im Michael Müller Verlag erschienenen Buch nachgegangen. Er hat dabei die düsteren Hinterhöfe Dublins genauso erkundet wie halsbrecherische Klippen am Atlantik oder bizarre Mondlandschaften. Ist in feuchte Steinzeitgräber gekrochen, hat faszinierende Höhlenlabyrinthe erforscht, sich in Moor nasse Füße geholt und begrüßt manches Schlossgespenst inzwischen als alten Bekannten. Außerdem wurden neue Wanderwege und alte Wasserstraßen aufgespürt, Betten getestet, Speisen gekostet, Fahrpläne studiert und die irische Gemütslage am Tresen und anhand von Ryan Tubridy’s »Late Late Show« erkundet.