Dein Kulturreisejournal

Dieter Roth Foundation

Vergammelt, verfault, verschimmelt – und Kunst

von Hanna Halbritter

Süßlich. Ein leicht süßlicher Geruch, undefinierbar und doch vage bekannt. Die Kunst von Dieter Roth begrüßt den Besucher mit unverwechselbarer (Geruchs-) Note, wenn er das Museum durch die elegante Tür der noblen Villa betritt. Erst später wird sich herausstellen, was genau die Quelle für diese süße Begrüßung ist.

Ein Museum für ein Lebenswerk
Die Geschichte des Museums der Dieter Roth Foundation beginnt mit der Freundschaft zwischen dem Schweizer Universalkünstler Roth und dem Hamburger Anwalt Philip Buse. Dieser sammelte fast von Beginn an die Kunst Roths, unterstützte ihn wie ein Mäzen. In Buses Villa im vornehmen Hamburger Stadtteil Harvestehude hatte Roth, der zwischen Island, Amerika und Deutschland pendelte, immer auch ein Atelier. Schon früh kam die Idee eines Museums auf. Buse begann einige Werke Roths für diesen Zweck zurückzukaufen, während Roth unverkäufliche Arbeiten in zweiter Auflage nochmals anfertigte.
Im Sommer 1998 verstarb Roth jedoch plötzlich. Der Sammler Buse zog nun auch aus seinem Haus in der Abteistraße aus und verwirklichte dort den gemeinsamen Traum des Museums. Heute ist es eine Art „öffentliches Privatmuseum“, dass nur nach Voranmeldung und mit einer Führung zu besichtigen ist.

Erfolgsrezept aus Hack und Schokolade
Das Museum präsentiert das umfassende und vielseitige Lebenswerk Roths über vier Stockwerke verteilt. Im großzügigen Penthouse sind die Anfänge von Roths Kunstschaffen zu sehen. Neben grafischen Arbeiten – Roth war ausgebildeter Grafiker – finden sich beispielsweise seine so genannten „Gummibandbilder“ und „Kugelbilder“. Beide Werke gehen von derselben Basis aus: eine runde Holzplatte, in die in konzentrischen Kreisen große Nägel versenkt sind. Bei den „Gummibandbildern“ wurden die Bänder extra geliefert und so kam der Käufer selbst zum gestalterischen Einsatz. Die „Kugelbilder“ lassen sich drehen, so dass einliegende Holzkugeln zwischen den Nägeln hin und her hüpfen und einen fast erzählerischen Klang erzeugen.

Kugelbild
Kugelbild © Fotos Dieter Roth Foundation, Dieter Roth Estate,
courtesy Hauser und Wirth

Ein Stockwerk tiefer hängt es dann auch schon: Roths erstes Bild mit Lebensmitteln, in diesem Fall Pralinen. In den 60er Jahren begann er in Amerika beispielsweise mit Schokolade, Kartoffelsalat und Hackfleisch zu experimentieren und zu malen, wie auch bei seinem Gemälde „Fruits of a crash“ von 1965, das den Unfall zweier Motorräder zeigt und durch Plexiglas von zwei Seiten zu betrachten ist.
Lebensmittel als Werkstoff sollen den Betrachter nicht in erster Linie schockieren, sondern zeigen das Kunstwerk in einem ständigen Prozess des Zerfalls, der unkalkulierbar ist. Dieser steht für die Erfahrung einer ganz neuen Wahrnehmung und die Erweiterung des kunsthistorischen Formkanons über die traditionelle Vergänglichkeit hinaus. Dem Betrachter bleibt so immer nur der augenblickliche Zeitpunkt.

Der Verfall wurde so als Kunst erlebbar, war aber – aus verständlichen Gründen – nur schwer verkäuflich. Der durchdringende Gestank der Verwesung veranlasste so auch einen Vermieter dazu, Roths Atelier bei dessen Abwesenheit räumen zu lassen. Die ganze Kunst landete im Müllcontainer.
Auf einem niedrigen Tisch ist ein Sammelsurium von Kuriositäten zu betrachten. Auch hier ist Essen im Spiel, aber der Neugierige kann sich ohne Furcht nähern: Jedes kleine Kunstwerk ist mit einer Plexiglashaube abgedeckt, die Schlimmeres verhindert. Eine Schweizer Werbeagentur hatte Roth beauftragt, 120 Grafiken oder Multiples als kleine Weihnachtsgeschenke herzustellen. Heraus kamen 100 Objekte der besonderen Art, darunter kleine Inseln aus Brot, die bei der Agentur nicht gerade auf Begeisterung stießen. Dabei entwickeln die verwesenden Kunstwerke ihre ganz eigene Ästhetik, wirken teils wie düstere Landschaften.
Gleich daneben liegt eine Literaturwurst aus den 60er Jahren. Roth zeriss Bücher oder Zeitschriften, zerkleinerte sie weiter und verwurstete sie nach einem original Wurstrezept. Der ausgeschnittene Titel diente dabei als Etikett.
Auch Roths „Selbstporträt als alter Mann“ aus Schokolade und Vogelfutter, einige der mit Gewürzen gefüllten „Geruchsorgeln“ oder das fast niedliche „Karnickelköttelkarnickel“ werden im wohnlichen Ambiente des Museums präsentiert.

Literaturwurst
Literaturwurst © Fotos Dieter Roth Foundation, Dieter Roth Estate, courtesy Hauser und Wirth

Zuckersüßer Schimmel als Gesamtkonzept
Eine leider nicht mehr erhaltene Installation Roths war das Schimmelmuseum. In einer Remise an der Alster konnten seine aktiven Kunstwerke in Ruhe vor sich hin schimmeln, ganz ohne Plexiglas. Zu sehen waren in dieser spannenden Umgebung Arbeiten aus buntem Zucker und natürlich auch zahlreiche Schokoladengüsse, die er vor Ort selbst anfertigte. Eine Nacharbeitung so einer Zuckerarbeit ist auch im Museum zu bewundern, ganz ohne Schimmelmief, dafür mit einer ganz eigenen Ästhetik.
Viel Aufmerksamkeit widmete Roth seinen Künstlerbüchern. In fast jeder Schaffensphase ist dann auch ein solches entstanden, von denen einige Exemplare im Museum betrachtet werden können.

Löwenselbstturm
Löwenselbstturm © Fotos Dieter Roth Foundation, Dieter Roth Estate,
courtesy Hauser und Wirth

In den 70er Jahren malte Roth zum Teil fast konventionell, fertigte Materialbilder und erstellte beispielsweise eine Reihe von nebenbei gefertigten Tischunterlagen. Waren die 60er Jahre noch mehr von Zerfall und Verfall geprägt, begann Roth nun auch eine Reihe von Kollaborationen mit Künstlerfreunden, denen im Museum ein ganzer Raum gewidmet ist. Zusammen mit Künstlern wie Richard Hamilton erarbeitete Roth originelle und auch humorvolle Werke wie Bilder für eine Ausstellung für Hund und Herrchen.

Werke von Dieter Roth
Werke von Dieter Roth. Ausstellungsansicht Dieter Roth Museum. © Fotos Dieter Roth Foundation, Dieter Roth Estate, courtesy Hauser und Wirth

Zu dieser Zeit begann der jüngere Sohn von Roth, Björn, seinem Vater zu assistieren und auch gleichberechtigt an den Werken mitzuarbeiten. Jedoch behielten sie den experimentellen Charakter bei und arbeiteten an den verschiedensten Disziplinen. Roth verfolgte nach eigener Aussage ein Thema nur so lange, bis es ihm zu leicht fiel oder es zu schön wurde und damit den von ihm gewählten Anspruch nicht gerecht wurde. Oft reagierte er auf Zeitströmungen, nahm sie auf, machte aber immer etwas Eigenes daraus.
Ab Mitte der 70er Jahre widmete sich Roth auch der Verbindung von Kunst und Musik. So gründete er einen Plattenverlag und gestaltete zusammen mit seinen zwei Söhnen unter anderem eine Symphonie aus Hundegebell, die in Verbindung mit Fotos und Zeichnungen im Museum fast zu einer Rauminstallation wird.

Führung durch das Dieter Roth Museum © Dieter Roth Foundation, Hamburg / videocompany.ch

Süßes Finale
Im Erdgeschoss angekommen ist er wieder da: der Geruch. Die Süße wabert dezent durch die Räume, doch nun folgt auch die Aufklärung: Zartbitterschokolade, Vollmilchschokolade, weiße Schokolade – was sich liest wie ein süßes Rezept sind wieder mal die Zutaten für einige Kunstwerke von Roth.
In den 80er und 90er Jahren griff Roth oftmals auf seine Werke der 60er Jahre zurück. So stapelte er beispielsweise Nachgüsse seiner Schokoladen-Vogelfutter-Büste zu breiten Türmen, die zunächst im Schimmelmuseum standen und bis zu acht Meter hoch waren. Im Museum befindet sich ein etwas kleinerer Turm der Büste sowie auch ein ähnlicher „Löwenselbstturm“ und dazu noch einige in Schokolade gegossene Gartenzwerge.
Im Allgemeinen weist das Spätwerk Roths viele autobiographische Züge auf, die sich neben seinen Filmprojekten auch in den Künstlerbüchern zeigen, die nun vor allem aus Abschriften seiner vielen rastlos geführten Tagebücher bestehen. Im Museum hängen aus dieser Zeit einige der collagenartigen Selbstporträts aus seiner Kleidung fast melancholisch an den Wänden.
Auch aus Roths Schimmelmuseum ist im Erdgeschoss noch mehr zu sehen: eine kleine quadratische Fläche unter Plexiglas mit zerfressen-verwester Schokoladenkunst. Dieses übrig gebliebene Originalstück aus Roths vergangenem Gesamtkunstwerk der Vergänglichkeit zeigt nach seinem jahrelangen Verfall auch nochmals die seltsame Schönheit der bestehenden Kunst Dieter Roths.

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