Dein Kulturreisejournal

Von Reichtum und Mangel

Die Backsteingotik in Norddeutschland

von Duygu Yilmaz

Städte in rot – Backsteine dominieren im norddeutschen Raum. Norddeutschland im Mittelalter: Der Handel sorgt für einen nie dagewesenen wirtschaftlichen Aufschwung und ermöglicht es den Hansestädten Kathedralen, Kirchen und Bürgerhäuser im gotischen Stil zu errichten. Ursprünglich aus Frankreich stammend, entwickelte der Stil im norddeutschen Raum und um die Ostsee seine eigene Formsprache.

Rathaus in Stralsund
Das Rathaus in Stralsund © JoachimKohlerBremen, CC BY-SA 4.0

Wenn der Blick über die Dächer Stralsunds schweift, merkt man schnell, dass eine bestimmte Farbe die Stadt dominiert: Die verschiedensten Rottöne der Dachziegel und das leuchtende Rot der gotischen Backsteinbauten versetzen die Stadt in ein in warmen Farben schimmerndes Ambiente. Dunkelrote Türme von Kirchen und Klöstern ragen weit in den Himmel und prägen die Silhouette der Stadt. Der Turm der Marienkirche bietet eine atemberaubende Sicht auf die Altstadt, enthüllt mittelalterliche Grundrisse und gotische Stilelemente.

Stralsunder Altstadt
Stralsunder Altstadt, vom Turm der Marienkirche © BenjaminW, CC BY 3.0

Gleich drei gotische Kirchen bietet die Stadt am Strelasund: Die Marienkirche ist die größte Pfarrkirche der Hansestadt, während die Nikolaikirche die älteste ist. Die Jakobikirche ist die jüngste der drei Pfarrkirchen und wird derzeit ausschließlich als Kulturkirche für Theateraufführungen, Ausstellungen, Kunst und Konzerte genutzt. Hinzu kommt das gotische Rathaus, das als eines der bedeutendsten Profanbauten der Backsteingotik gilt.

Nikolaikirche
Nikolaikirche mit markanten Doppeltürmen © Klugschnacker, CC BY-SA 3.0

Ursprünglich entstand die Gotik um 1140 in der Île-de-France, also rund um Paris. Als erster gotischer Kirchenbau gilt im Allgemeinen die ehemalige Abteikirche von Saint-Denis in Paris. Der neue Bauweise breitete sich schnell auf große Teile West- Mittel- und Südeuropas aus.
Hintergrund der Gotik war die Verbildlichung der christlichen Ideenwelt. Der neue, filigrane Stil sollte schnell die Romanik ablösen.

Abteikirche von Saint-Denis
Die Abteikirche von Saint-Denis in Paris
© Thomas Clouet, CC BY-SA 4.0

Denn der Übergang von der Romanik zur Gotik markiert zugleich eine Zeitenwende: Das 12. und 13. Jahrhundert war geprägt von einem geistigen, theologischen, politischen, wirtschaftlichen und technischen Aufbruch. Die Ansprüche an den Kirchenbau veränderten sich dementsprechend: Die Wirtschaftslage verlagerte sich immer mehr vom Land in die Stadt. Bürger strömten die Städte und es entstand Bedarf an neuen Kirchenbauten. Außerdem versuchten weltliche und geistige Herrscher, sich gegenseitig mit prachtvollen Bauwerken zu übertrumpfen. Kirchenbauten waren eine Demonstration von Macht und Reichtum. Der Bau von neuen Kathedralen oder Bürgerhäusern entwickelte sich mit zunehmendem Wohlstand rasant.

Auch in den norddeutschen Hansestädten war der wirtschaftliche Aufschwung unter anderem ein Grund für einen regelrechten Bauboom. Hier waren es die Bürger und Händler die ihre Machtansprüche zum Ausdruck bringen wollten. Lange Zeit hatten Holzbauten in Norddeutschland dominiert, die für Monumentalbauten jedoch nicht geeignet waren. Der neue architektonische Stil aus Frankreich kam den Deutschen gerade gelegen, um ihren neu errungenen Wohlstand auszudrücken. Der gotische Stil wurde somit in Norddeutschland und dem Ostseeraum verbreitetet.

Anspruchsvoller, komplexer, größer – da die Romanik bereits eine starke Grundlage an Bautechniken vorgelegt hatte, konnten in der Gotik die Bauweisen erweitert, gestärkt und in bisher noch nie da gewesenen Ausmaßen weitergeführt werden.

Allerdings gab es ein Problem: Der Mangel an Naturstein, der im Norden Deutschlands herrscht, erschwerte den Bau ausladender, repräsentativer Kirchen enorm. Transporte aus Süddeutschland wären zu dieser Zeit viel zu kompliziert und zu kostspielig gewesen. Im Mittelalter war es undenkbar, größere Mengen an Steinen über längere Distanzen zu befördern. Als Lösung wurden daraufhin Backsteine aus Lehm hergestellt, welches in Mengen vorhanden war. Backsteine waren zunächst also bloße Ersatzbaustoffe. So entstand der Begriff der Backsteingotik, auch Norddeutsche Backsteingotik oder Norddeutscher Backsteinbau genannt.

Zwar konnte man mit Backsteinen nicht die feinen Figuren und Reliefs, wie sie an den Meisterwerken in Frankreich vorzufinden sind, nachbauen. Ihre Schönheit erhielten die Bauwerke jedoch durch gemauerte Ornamente und eine farbliche Flächenstrukturierung.
Die Fenster am Stralsunder Rathaus bieten ein Beispiel hierfür: Rote und dunkel glasierte Backsteine zaubern im Wechselspiel miteinander ein besonderes Muster. Dazu verleihen die schlanken Fensterreihen mit gotischen Spitzbögen dem Bauwerk eine unverwechselbare Eleganz und machen es zu einem unverzichtbarem Stück Geschichte Norddeutscher Backsteingotik.

Fensterdetail stralsunder Rathaus
Rote und dunkel glasierte Backsteine im Wechselspiel am Stralsunder Rathaus
© Klugschnacker aus Stralsund, CC BY-SA 2.5

Den Kopf weit in den Nacken gelegt, die Augen weit geöffnet. Nur so kann man erkennen und erleben, wie hoch die Decke in der St. Marien Kirche in Stralsund tatsächlich ist. Die schlank strukturierten Säulen scheinen gar kein Ende zu nehmen. Zudem durchfluten großflächige Glasfenster mit Spitzbögen das Gebäude mit Licht und lassen den ohnehin schon großzügig geschnittenen Raum noch gewaltiger erscheinen. Die Strahlen der Sonne, das Licht Gottes, sollen nämlich die ganze Kirche erfassen und das Bauwerk in gebaute Metaphysik verwandeln. Die typischen Bauten der Backsteingotik zeichnen sich dadurch aus, dass sie oft sehr wuchtig und von monumentaler Größe sind. Der Besucher kann sich in deren Innenraum also durchaus mal klein und unbedeutend fühlen. Äußerlich jedoch sind die Bauten eher schlicht und bei weitem nicht so grazil wie in den zeitgleich entstandenen Kirchenbauten aus Naturstein. Erst später wurden die Bauten auch von außen so renoviert, dass sie einen anspruchsvolleren Anblick hatten. Die massiven, bedrängenden Komponenten der romanischen Epoche, die Schutz gegen das „Böse“ bieten sollten, wurden in der Gotik durch offenere Stilelemente ersetzt.

Das Verbreitungsgebiet der Backsteingotik deckt sich weitgehend mit dem Einflussgebiet der Hanse. Die Baukunst ist zu einem Symbol und zu einem wesentlichen Element dieses machtvollen Städtebundes im norddeutschen Kulturraum geworden. Die südlichsten Verbreitungsgebiete der Backsteingotik in Deutschland liegen in Thüringen (Die Altenburg) und in Chemnitz (Roter Turm). Nach Norden hin ist Skandinavien stark von dem Stil geprägt.
Beispiele aus anderen Städten Deutschlands sind: Das Holstentor in Lübeck, das Doberaner Münster, die Stadttore Neubrandenburgs und das Lüneburger Rathaus. Aber auch der Dom in Riga (Lettland), die Marienburg in Polen und das Franziskanerkloster in Ystad (Schweden) repräsentieren den Stil vorbildlich.

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