Dein Kulturreisejournal

Die Hamburger Kunsthalle

Von Dungeons, Endgegnern und einer Reise durch die Kunstgeschichte

von Julia Marhenke

Die Hamburger Kunsthalle bietet Kunst in Hülle und Fülle und für jeden Geschmack. Dass man neben Kunstinteresse aber auch einen guten Orientierungssinn benötigt, wird bei einem Besuch der drei Gebäude schnell deutlich.

Die Fenster verhängt, kaltes Deckenlicht. An den Wänden Bilder über Bilder. So viele, dass man gar nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll. Leicht orientierungslos schweift der Blick so über Dutzende von Kunstwerken. Klick. Die Mitarbeiterin im Raum zählt die Personen, die durch eine der Türen treten.

Die Hamburger Kunsthalle ist riesig. Zwar sieht man das schon von außen, aber im Innern wirkt sie fast noch größer. Mehr als 700 Werke sind ständig zu sehen, mit Schwerpunkten auf norddeutscher mittelalterlicher Malerei, niederländischer Malerei des 17. Jahrhunderts, der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne.

Endlose Gänge und Räume
Endlose Gänge und Räume in der Kunsthalle © Julia Marhenke

Bei dieser Fülle weiß man gar nicht, wo man mit Schauen anfangen soll. Und dabei hatte man vorher schon vor der Wahl gestanden, durch welchen der drei Eingänge man die Kunsthalle überhaupt betritt. Ja, die Kunsthalle zwingt einen zu vielen Entscheidungen. Da kommt auch schon die nächste: linke oder rechte Tür?

Museum oder Videospiel?
Im linken Gang wird man mit dem Gemälde „Tiger und Schlange“ des Realisten Eugène Delacroix aus dem Jahr 1858 belohnt. Im linken unteren Bildrand richtet sich drohend und züngelnd eine Schlange auf, während die Raubkatze sie nur im Vorbeilaufen bemerkt zu haben scheint und sich nun aufgeschreckt ebenfalls drohend dem Reptil zuwendet. Dreht man sich von Tiger und Schlange weg und schaut den Gang hinunter, kommt man sich urplötzlich in ein Videospiel versetzt vor. Viele Nischen gehen vom Flur ab, teils führen sie in weitere Gänge, teils sind sie Sackgassen. Im Kopf entsteht das Bild eines Dungeon – dem Höhlensystem eines Videospiels –, bei dem man etwas ziellos umherläuft und dabei versucht, sich nicht allzu oft von Monstern angreifen lassen.

Tiger und Schlange
„Tiger und Schlange“ von Eugène Delacroix, 1858

In diesem Fall gibt es natürlich keine Monster, nur Mitarbeiter der Kunsthalle. Die scheinen dafür aber an jeder Ecke zu stehen und die Bilder und Skulpturen zu bewachen. Ob sie merken, dass man selbst nicht wirklich weiß, wohin man gerade läuft? Das Dungeon-System des Museums verwirrt einen nämlich ziemlich. Gut, dass es wie auch im Videospiel eine Karte gibt, die einem grob die Räumlichkeiten vermittelt. Was genau sich dort befindet, sieht man allerdings erst, wenn man den Raum betritt.

Ein Museum – drei Fassadenstile
1869 öffnete das Museum seine Türen zum ersten Mal. Damals war es noch bedeutend kleiner und wurde erst im Laufe der Zeit zweimal erweitert, um der wachsenden Sammlung Platz zu bieten.1921 wurde die erste Erweiterung im neoklassizistischen Stil fertig gestellt, 1995 der weiße Kubus für die Galerie der Gegenwart. Hundertprozentig zueinander passen tun die drei unterschiedlichen Fassaden nicht. Gerade der Kalksteinbau des Kubus hebt sich deutlich von den beiden älteren Teilen ab. Dafür befindet er sich aber auch räumlich etwas distanziert von diesen.

Vom mittleren Teil aus in den Kubus zu gelangen ist auch gar nicht so einfach. Trotz Karte. Irgendwie irrt man doch ein wenig planlos durch die Räume und Gänge. Klick. Plötzlich steht man wieder in dem Raum, in dem die Mitarbeiterin die Personen zählt. Also doch die andere Richtung. Da versperrt einem aber eine Tür den Weg, die vorher nicht dort gewesen sein kann. Oder doch? Die Assoziation mit dem Dungeon kommt wieder hoch. Auch dort verschieben sich manchmal Wände und Gänge.

Kurz darauf sieht man wieder den Tiger und die Schlange. Hier war man also auch schon gewesen. Links rum und klick. Auch wenn die Kunsthalle nicht unbedingt in Rundwegen aufgebaut scheint, läuft man dennoch pausenlos im Kreis. Immerhin geht es auch anderen Besuchern so. Zumindest sieht man so einige mit dem Plan in der Hand zu einem der vielen Mitarbeiter laufen und nach dem Weg fragen.

Plötzlich das Eismeer vor Augen
Da ist man froh, wenn man zwischendurch an einer der Bänke vorbeikommt und mal im Sitzen die Kunstwerke genießen kann. Caspar David Friedrichs „Eismeer“ hängt an der Wand vor der ausgewählten Bank. 1823/24 malte der Künstler es, vermutlich angeregt von den Berichten über die erste gescheiterte Polarexpedition. Die ineinander geschobenen und aufgetürmten Eisschollen haben ein Schiff unter sich begraben, nur der Mast ist noch zu sehen.

"Das Eismeer" von Caspar David Friedrich
„Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich

Alfred Lichtwark – Direktor mit Struktur
Dass das Bild heute hier hängt, ist Alfred Lichtwark zu verdanken, dem ersten Direktor der Kunsthalle. Vor seinem Amtsantritt war die Sammlung eher wahllos zusammengewürfelt. Da kein Etat für Ankäufe zur Verfügung stand, erweiterte die Kunsthalle ihren Bestand ausschließlich aus Schenkungen und Vermächtnissen. Die Werke waren daher meist zeitgenössischer Art und entsprachen dem bürgerlichen Geschmack.

Lichtwark hingegen begann mit der systematischen Sammlung von Werken. Neben dem allgemeinen Bestandsaufbau legte er insbesondere Wert auf die Sammlung von Hamburger Kunst und Künstlern. Hierfür lud er unter anderem Max Liebermann und Pierre Bonnard zum Malen nach Hamburg ein, von denen er auch sonst Arbeiten zusammentrug. Er entdeckte außerdem den schon erwähnten Caspar David Friedrich neu und kaufte einen Großteil der Werke von Phillip Otto Runge.

Galerie der Gegenwart
Etwas erholt kann es dann weiter gehen. Nach einem weiteren Klick und einem abermaligen Besuch bei Tiger und Schlange geht es über mehrere Treppen in den unterirdischen Gang, der das Gebäude mit der Galerie der Gegenwart im weißen Kubus verbindet. Diese ist glücklicherweise so aufgebaut, dass man sich nicht verlaufen kann. Immer schön im Kreis herum und dann ins nächste Stockwerk. Wenn doch alles so einfach wäre.

Dabei heißt einfach nicht langweilig. Ganz im Gegenteil. Unterschiedlichste Kunstwerke verbergen sich hier. So steht man plötzlich vor einem Haufen – pardon – Dreck. Läuft man um ihn herum, entpuppt er sich als grauschwarzer Hügel, in den mehrere viereckige Metallrohre eingebracht sind, durch die man durch ihn hindurchschauen kann. Es ist das Werk „Aschehaufen VI“ aus den Jahren 1968/71 von Reiner Ruthenbeck, das hier im Rahmen der Sammlungspräsentation „minimal and beyond“ bis 29. Juli 2012 zu sehen ist.

Aschehaufen von Reiner Ruthenbeck
Rechts: Reiner Ruthenbeck (*1937), Aschehaufen VI, 1968/71
Mitte: Zahlenreihe „ohne Titel“ von Mario Merz, 1992/93
© IBK

Dann geht’s auch schon wieder durch den unterirdischen Gang zurück in den Dungeon-Teil der Kunsthalle. Hallo Tiger, klick, die Suche nach dem Weg zum Kuppelsaal. Über mehrere Umwege schließlich ein Erfolgserlebnis. Gefunden! Allerdings nur für wenige Minuten, denn nachdem man rechts abgebogen und durch eine Tür gelaufen ist, steht man plötzlich wieder gänzlich woanders.

Sammlung der Kunsthalle
Die Mitarbeiter der Kunsthalle gucken auch schon etwas misstrauisch. Andere scheinen sich wohl doch besser zurechtzufinden. Vorbei geht’s an den alten Meistern à la Holbein d.Ä., Meister Bertram, Rubens und Rembrandt. Um die Ecke finden sich Arbeiten des 19. Jahrhunderts von beispielsweise Runge, Caspar David Friedrich – ach, da ist das Eismeer ja schon wieder –, Adolf Menzel, Wilhelm Leibl, Max Liebermann, Monet, Renoir und Degas.

Und um die nächste Ecke? Ja richtig, Tiger und Schlange. Von denen aus wieder an den Künstlern der Klassischen Moderne vorbei: Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Louis Corinth, Picasso oder auch Hans Arp. Der Weg durchs Dungeon wird immer vertrackter. Nur der Endgegner fehlt noch. Der dürfte in diesem Fall der Ausgang sein. Nach der mehrstündigen Reise durch sieben Jahrhunderte Kunst ist man dann nämlich doch ganz schön erschöpft – wenn auch um einige Impressionen reicher.

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