Dein Kulturreisejournal

Trafalgar Square

London: Alison Lapper Pregnant

von Kathleen Hahnemann

Auf einem der berühmtesten Plätze der Welt ist etwas passiert: Der Trafalgar Square im Herzen von London hat einen neuen Sockelgast. Er ist 3,5 Meter hoch, weiß, nackt, behindert, schwanger und eine Sie.

Der nordwestliche Sockel wird derzeit von einer nackten, schwangeren Frau besetzt, die keine Arme hat und verkürzte Beine – ein Geburtsfehler der Künstlerin Alison Lapper. Sie hat keinerlei Attribute und blickt weg von diesem Platz voller Nationalbewusstsein. Die Skulptur ist eine Arbeit des britischen Künstlers Marc Quinn, der als Vertreter der Young British Art Szene bereits international für Aufsehen gesorgt hat. Quinn’s weiße Marmor Skulptur stellt die Künstlerin Alison Lapper im fortgeschrittenen Stadium ihrer Schwangerschaft dar.

Alison Lapper Pregnant
Von 2005 bis 2007 war „Alison Lapper Pregnant“ (Marc Quinn) am Trafalgar Square zu sehen
© Peter Broster – National Gallery, CC BY 2.0

Plätze sind Knotenpunkte. Sie sind Treffpunkte für die Gemeinde, Orte der Kundgebung, der wichtigen Entscheidungen, und sie haben ihre Sockel-Helden. Seit Jahren steht einer von vier rahmenden Sockeln am lebendigsten Platz Londons leer. Im Rahmen des Fourth Plinth Projektes wird dieser alle 18 Monate neu bespielt.

Die behinderte Frau sitzt auf dem Sockel vor der National Gallery. Sie ist materialbedingt weiß und irgendwie wirkt sie neutraler als die anderen. Sie gehört in unsere Zeit. Ihre Attribute sind ihre Weiblichkeit, ihre Schwangerschaft, ihre Behinderung. Es fällt einem ein, dass an solchen Plätzen selten säkulare weibliche Heldinnen thronen. Eine der wenigen schwangeren Frauen, die abgebildet werden ist Maria, die heilige Mutter Gottes. Und wenn eine Skulptur körperliche Defizite aufweist, dann werden die Spuren eines Kampfes als Ursache für diese mit angegeben. Aber während Maria kulturell konnotiert ist und Heldinnen für eine Nation konstituierend sind, ist die behinderte schwangere Frau in allen Sprachen lesbar. Man muss sich das vor Augen führen vor dem Hintergrund, dass an einem Tag auf dem Trafalgar Square wahrscheinlich genauso viele Vertreter verschiedenster Nationen zusammentreffen wie auf dem G8 Gipfel. Und für die, die nicht nach London kommen in den nächsten 17 Monaten, war ein Foto des Denkmals Alison Lapper Pregnant in der Zeitung. Es war das Foto des Tages in der Weltpresse vom 15. September 2005.

Alison Lapper hat kein Land gerettet und keinen Sieg für ihr Land heimgetragen. Sie hat einen Sohn zur Welt gebracht und malt mit Ihren Füßen. Man kennt sie, weil sie behindert ist und auf dem Trafalgar Square einen Sockel innehat. Sie ist eine von uns und verdient Anerkennung, weil sie mehr Energie aufbringen muss, um ihren Alltag zu meistern.

Quinns Arbeit ist keine Provokation an unseren Geschmack. Sie ist das Gegenteil unserer Vorstellung von Denkmal. Sie hält uns vor Augen wie wir uns in der Gewohnheit eingerichtet haben und wie sicher wir uns darüber sind was Normalität ist. Am Trafalgar Square, der ökonomische, politische und kulturelle Macht verknüpft, ist Alison Lapper Pregnant 18 Monate dauerpräsent – als Störfaktor.

Wenn man sich einmal vor die National Gallery setzt kann man Touristen beobachten, die schnurstracks an der Säule und den anderen Skulpturen vorbeigehen, bei Alison Lapper jedoch innehalten. Das mediale Potenzial der Arbeit von Quinn ist enorm. Kunst im öffentlichen Raum wird hier wieder zu einer ernstzunehmenden Größe.

Wenn der Mensch mit seinen Denkmählern unter anderem an seine Taten erinnert, sie feiert und mahnt. Dann ist Alison Lapper Pregnant in diesem Sinne eine Mahnung an die Menschlichkeit, ein Zeugnis des Respekts gegenüber allem Lebendigen in einer Zeit, in der das oft vergessen wird.

Ein mutiger Platz, der Trafalgar Square!

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